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Das architektonische Werk 201
sehr geschätzt wurden und chinesische Formulierungen als altmodisch oder überholt
galten. In gewisser Weise wurde daher die stilistisch vielfältige Gestaltungsweise des
19. Jahrhunderts in Verbindung mit europäischem Know-how zum Synonym von Fort-
schrittlichkeit und Modernität. Diese eklektizistische, heute »postmodern« ausgeprägte
Gestaltungsweise und die Ausrichtung an europäischen Architektur-Ensembles erfreu-
en sich sogar bis heute großer Beliebtheit. So entstand ab 2006 etwa bei Shanghai eine
Satellitenstadt, deren einzelne Stadtteile verschiedene Gebäude europäischer Kleinstäd-
te mehr oder weniger kopierten oder nachempfanden: Es gibt eine deutsche, eine eng-
lische, eine holländische oder italienische »Stadt«. Und 2012 wurde in der Provinz Gu-
angdong eine – beinahe – getreue Kopie der österreichischen Kleinstadt Hallstatt, einer
Weltkulturerbe-Region in Oberösterreich, inklusive See, Kirchturm, Dorfplatz und pas-
tellfarbener Häuser als Wohnort für reiche Chinesen erbaut.
Spannend ist daher, wie Rolf als Architekt auf die Erwartungshaltungen der Bauher-
ren in Tientsin reagieren würde. Geschult in allen Stilen der Vergangenheit, hätte er sich
der historistischen Bauweise problemlos anpassen können. Wie sich in seinen Skizzen
aus seiner Gefangenschaft zeigte, hat er auch immer wieder mit verschiedenen stilisti-
schen Formulierungen experimentiert. Andererseits war er von den Vorteilen moderner
Baumaterialien überzeugt, und insbesondere im Stahlbeton sah er Ausdrucksmöglich-
keiten, die neue, moderne Formulierungen bedingten bzw. förderten. Schon beim Klub-
haus der Normannen, das er im Jahr 1912 in Klosterneuburg bei Wien erbaut hatte, ist
zu erkennen, dass er bereit war, die historistische Gestaltungsweise hinter sich zu lassen.
Wenn man als Kunsthistorikerin über einen Architekt arbeitet, so ist man – fast au-
tomatisch – bestrebt, dessen Arbeiten einer bestimmten kunsthistorischen Epoche zu-
zuweisen. Das funktioniert bei Architekten der Vergangenheit auch sehr gut. Bei einem
Architekt, der etwa um 1700 tätig war, kann man sicher sein, dass er der Barockepoche
angehörte. In der Baukunst des 19. und 20. Jahrhunderts wird diese stilistische »Schub-
ladisierung« jedoch immer schwieriger bzw. ist überhaupt unmöglich geworden.
Im 19. Jahrhundert bewirkte die industrielle Revolution im gesellschaftlichen Gefü-
ge einen Umbruch, der weitgehend als Werteverlust erlebt wurde. Für die Architektur
hatte das zur Folge, dass man in den Epochen der Vergangenheit »Werte« suchte und
fand, die mithilfe des jeweiligen Stils auch bei neuen Bauaufgaben zum Ausdruck kom-
men und auf diese Weise auf die Gegenwart übertragen werden sollten. Charakteristi-
sche Beispiele findet man im Kirchenbau: Bei neu errichteten Kirchen sollte durch den
Rückgriff auf den gotischen bzw. romanischen Stil die tiefe Religiosität des Mittelalters
wiedererlangt werden. Gleichzeitig wurde diese Vorgehensweise jedoch wiederum als
Verlust erlebt. Durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit erkannte man nämlich,
dass nun eine Epoche begonnen hatte, die erstmals keinen neuen Stil hervorzubrin-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273