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China 228
den Unterschied zur europäischen Anschauung. Denn anders als in Europa hatte in Chi-
na Holz keineswegs den Nimbus eines billigen Materials, sondern wurde aufgrund der
jahrtausendealten Tradition und der Möglichkeit zur kunstvollen Bearbeitung mehr ge-
schätzt als Steinmaterial, aus dem dann auch nur das weniger wichtige Eingangstor der
Anlage gefertigt wurde. Schmückende Reliefs lassen erkennen, dass man aber durchaus
auch mit diesem Material umzugehen verstand.
Wiederum erstaunt, dass Hermine die Besonderheiten dieser Konstruktion nicht ana-
lytischer in den Blick nimmt und die herausragenden Leistungen der traditionellen chi-
nesischen Holzbauweise mit keiner Silbe würdigt. Aber auch der Exotismus dieses Am-
bientes vermochte sie offenbar nicht in seinen Bann zu schlagen. Wie Rolf als Architekt
diesen Theaterbau beurteilte, ist leider nicht bekannt.
Laut Hermines Bericht erlebte das Ehepaar eine für China typische Vorstellung: Wie
üblich wurde eine Heldensage aufgeführt, und wichtige und gekonnt dargebrachte Pas-
sagen wurden vom Publikum mit einem kräftigen »Hau hau« quittiert. Die Solostimmen
waren halb gesprochen, halb in Falsetttönen dargebracht. Der Gesang wurde von ei-
nem kleinen Orchester begleitet, das aus chinesischen Violinen, einer Art Zither, einem
Oboe-ähnlichem Blasinstrument und einer Reihe von Gongs bestand. Der Koordination
des Orchesters und der Gesangsstimmen wurde allerdings keine große Bedeutung bei-
gemessen, zum Teil schien es zu improvisieren, während die Darsteller ihren Part unbe-
irrt sangen. Alle Rollen, d. h. auch die Frauenrollen, wurden von Männern wahrgenom-
men. Jeder Schauspieler wurde von seinem eigenen Diener begleitet, der sich auch auf
der Bühne aufhielt und dessen Hauptaufgabe darin bestand, dem Sänger nach einer
besonders schwierigen Gesangspassage eine Tasse Tee zu reichen.
Beeindruckend fand Hermine die prachtvollen Kostüme. Bühnenbild gab es indes-
sen praktisch keines. Nach Bedarf wurden Sessel, ein Tisch oder sonstige einfache Re-
quisiten während der Vorstellung auf die Bühne gebracht. Ein Fluss wurde beispielweise
durch ein blaues Tuch dargestellt. Umso mehr wurde von den Schauspielern der Inhalt
durch eine expressive Körpersprache zum Ausdruck gebracht.
Eine kuriose »Nebenhandlung«, über die Hermine in dem bereits genannten Brief
vom Februar 1922 ihren Eltern berichtete, dürfte Rolf und Hermine gleichermaßen ver-
wundert haben. Sie schreibt, dass es üblich war, während der Vorstellung heiße, feuchte
Tücher zu benützen, um sich damit die Hände und das Gesicht zu wischen, so wie das
auch nach einem Essen Brauch war. »Gewöhnlich stehen drei Boys im Saal verteilt und
werfen sich gegenseitig einen Pack Tücher zu – der letzte bedient das Publikum, auf ei-
ner anderen Linie schleudert er sie zurück, aber immer einzelweis, sofort nach dem Ge-
brauch. So schwirrt es andauernd in der Luft. In Teehäusern ist es die nämliche Sache.«
Auch diese ständige Unruhe und Betriebsamkeit im Zuschauerraum waren Rolf und
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273