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ten. Noch weniger lässt sich darüber mutmaßen, welche Gefühle selbst ihn, den zum Fa-
talismus neigenden Pragmatiker, angesichts der aufkeimenden Erinnerungen und per-
sönlichen Rückblicke befallen haben müssen. Erwartungsgemäß gibt es von Rolf keine
diesbezüglichen Kommentare, und so erfährt man von ihm einzig und allein, dass es in
den einzelnen Stationen »nicht so wie ehedem alle bäuerlichen Nahrungsmittel zu kau-
fen« gab. ( Brief an Mutter und Greta, 5. 3. 1930 )
Einen Teil ihres Aufenthaltes verbrachten Rolf und Hermine in Österreich, um mit Rolfs
Mutter, Schwester Greta, Bruder Remigius und Freunden zusammenzutreffen. Für die Rei-
se nach Bukarest zu Hermines Eltern und Bruder Ernst wählten sie einen Donaudamp-
fer, wobei die beiden insbesondere die lang entbehrten Reize der facettenreichen Land-
schaft genossen. Einige Wochen machten sie Urlaub am Schwarzen Meer, wo Hermine
mit Moorbädern ihre körperliche Konstitution zu stärken hoffte. Weihnachten kamen Rolfs
Mutter und Schwester nach Bukarest, und die große Familie feierte das Fest gemeinsam.
Rolf unternahm noch ein paar »Extratouren«, um die Gelegenheit zu nutzen, die Fir-
meninhaber, mit denen er von China aus zusammenarbeitete, aufzusuchen bzw. um neue
berufliche Geschäftsverbindungen anzubahnen. Ein Weg führte Rolf auch zum ehemali-
gen rangältesten Offizier des Lagers von Dauria sowie zum ehemaligen Kommandanten
des Lagers Perwaja Rjetschka bei Wladiwostok. Bereitwillig verfassten diese die ausführ-
lichen »Bestätigungen« über seinen Einsatz als Lehrer und Architekt, die im Kapitel über
Rolfs Gefangenschaft zitiert sind. Eine weitere »Bestätigung« holte sich Rolf von der »Di-
rektion der städtischen Straßenbahnen«, die ihm seine architektonische Tätigkeit für die
damaligen »Wiener Verkehrsbetriebe« bescheinigte. Möglicherweise erhoffte Rolf, von
diesen Beweisen seiner beruflichen Aktivitäten zu profitieren, sofern er einmal nach Wien
zurückkehren sollte, um als Architekt in seiner Heimatstadt tätig zu werden. Mit Sicher-
heit hat Rolf seinen Aufenthalt in Wien auch dazu benutzt, sich über die aktuelle Bautä-
tigkeit zu informieren. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurde im Rahmen eines sozia-
len Wohnbauprogramms eine Reihe von »Gemeindebauten« errichtet, deren Architekten
zum Teil ehemalige Studienkollegen wie Michael Rosenauer, Josef Hahn oder Otto Po-
lak-Hellwig waren. Viele dieser Bauten waren gerade fertiggestellt worden oder befan-
den sich im Bau, wie etwa der »Karl-Marx-Hof« von Karl Ehn, der mit einer Länge von
rund einem Kilometer der damals längste zusammenhängende Wohnblock der Welt war.
Auch dem Ruderklub der Normannen stattete Rolf einen Besuch ab, und man kann
sich vorstellen, wie er die Begrüßung seiner ehemaligen Rudergefährten in dem Klubraum
sitzend genoss, den er rund 16 Jahre zuvor mit so viel Liebe zum Detail gestaltet hatte.
Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, dass alle Familienmitglieder überglücklich
waren, einander nach so langer Zeit wiederzusehen, und Mausi und Franzl wurden be-
sonders herzlich empfangen. Tauchte wohl jemals die Frage auf, ob Rolf nicht doch sei-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273