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Sehnsucht nach Österreich 241
nen Wirkungskreis nach Bukarest oder Wien verlegen sollte ? Die wirtschaftliche Situ-
ation in Europa erstickte diesbezügliche Erwägungen wahrscheinlich im Keim. Es gab
kaum Bauaufträge, und viele Architekten in Österreich konnten sich allenfalls mit dem
Entwurf von Möbeln und der Planung von Wohnungseinrichtungen über Wasser halten.
Dem stand das erfolgreiche berufliche Engagement Rolfs in Tientsin gegenüber, seine –
teils sehr renommierten – Aufträge, wie etwa das Spital in Tientsin, sowie seine Baufir-
ma als wichtige Einnahmequelle, die Rolf wohl kaum leichtfertig aufgeben wollte. Aller-
dings dürfte als Folge des Österreich-Aufenthaltes eine mögliche Rückkehr dann doch
ein Thema gewesen sein – vielleicht erst nach der Ankunft in China, vielleicht aber schon
als Ergebnis der familiären Gespräche in Wien. Jedenfalls wird Rolf die Frage, auf wel-
che Art und Weise eine Rückkehr familiär und wirtschaftlich am besten vorbereitet wird,
in den nächsten Jahren vermehrt beschäftigen, wie weiter unten deutlich werden wird.
Nach sechs Monaten Aufenthalt in Europa trat Rolf mit seiner Frau und den Kindern
im Februar 1930 vorerst jedoch wieder die Rückreise nach China an. Da die Reise einen
mehrmaligen Wechsel der Eisenbahnlinien notwendig machte und Anschlusszüge zum
Teil erst nach mehreren Stunden zur Verfügung standen, mietete Rolf in zwei dieser er-
zwungenen Aufenthaltsorte Hotelzimmer, wo seine Familie nach der tagelangen Bahn-
fahrt ein paar Stunden Erholung finden sollte. Er selbst suchte hingegen beide Male ei-
nen Eislaufplatz auf und genoss das »spiegelglatte, harte Natureis«. Unwillkürlich muss
man an einen Brief von Rolfs Mutter denken, in dem sie ihren Sohn als Egoisten be-
zeichnete. Denn Hermine litt seit der Abreise an einem schweren Darmkatarrh, sodass
vom russischen Zugsführer sogar zweimal um einen Arzt telegrafiert werden musste, der
dann in einer der Stationen nach ihr sah. Rolf jedoch hatte anscheinend keine Bedenken,
ihr die Kinder, die gerade drei und fünf Jahre alt waren, in einem Hotelzimmer zu über-
lassen, obwohl die Kinder mit Sicherheit nach der tagelangen Beengtheit in Zugabtei-
len gleichfalls ausgiebige Bewegung im Freien benötigt hätten, während Hermine ver-
mutlich lieber alleine die Ruhe in einem Hotelbett genossen hätte.
Schließlich stieg die Familie in den Zug, der sie bis nach Tientsin zurückbrachte, und
insbesondere Hermine wird sich gleichsam wieder wie »zu Hause« gefühlt haben. Rolf
schreibt in dem bereits erwähnten Brief vom März 1930: »Diese Etappe, in der chinesi-
schen Eisenbahn, war die einzige unangenehme. Garstiger, schmutziger Schlafwagen
bei dem die Heizung nicht funktionierte, so dass wir übernacht Pelze und Mäntel anzie-
hen und uns in die Decken und Plaids einwickeln mussten.«
In Wien war Rolf auch mit seinem Bruder Remigius zusammengetroffen. Rolfs Mutter
hatte mehrmals in Briefen berichtet, dass Remigius mit finanziellen Schwierigkeiten zu
kämpfen habe, was einerseits zwar aufgrund der wirtschaftliche Lage verständlich, aber
andererseits auch darin begründet war, dass Remigius – ganz Künstlerklischee – offen-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273