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China 252
1939 –, begann Hitler den Polenfeldzug, und Rumänien gewährte der polnischen Regie-
rung Exil und erlaubte zudem der polnischen Armee den Rückzug auf rumänisches Ter-
ritorium. Am 23. November 1940 trat Rumänien dann allerdings auf der Seite der Länder
des wenige Monate zuvor begründeten Dreimächtepakts zwischen Deutschland, Japan
und Italien in den Krieg gegen die Sowjetunion ein.
Auch wenn diese Entwicklung im Sommer 1939 nicht eindeutig absehbar war – zumal
aus der Distanz des Lebens heraus, das Rolf und Hermine in China führten –, so existier-
ten doch zu diesem Zeitpunkt genügend andere Warnzeichen, die einer Reise klar ent-
gegenstanden: In Österreich hatte der im März 1938 erfolgte »Anschluss« bereits weit-
reichende Folgen, da sämtliche Staats- und Regierungsorgane, die Polizei und Armee
von Deutschland übernommen worden waren. Eine erste Welle der Gewalt gegen jüdi-
sche Einwohner musste auch von Greta registriert worden sein, und ebenso die Plünde-
rungen, Vertreibungen und Enteignungen, die im ganzen Land stattfanden.
Natürlich hatte damals niemand jenen Überblick über das Ausmaß und die Folgen
dieser Ereignisse, den man erst Jahrzehnte später gewinnen konnte, und Rolf in Tientsin
wusste sicher noch weniger als die Menschen in Europa die Tragweite des politischen
Umsturzes unter Hitler richtig einzuschätzen. Denn nur so ist es zu erklären, dass er kei-
ne Bedenken hatte, seine Frau mit den Kindern alleine die Reise antreten zu lassen. Zu-
mindest über die Lage in China war Rolf so weit informiert, dass er es für ratsam hielt,
»in diesen kritischen Zeiten« sein Büro nicht alleinzulassen. Außerdem hatte er etliche
Projekte in Arbeit, die er nicht kurzerhand unterbrechen konnte, und wie immer fürch-
tete Rolf zudem, im Falle einer längeren Abwesenheit bei Neuaufträgen nicht berück-
sichtigt zu werden.
Kurze Zeit nachdem Hermine mit Mausi und Franz in Europa angelangt war, begann
am 1. September 1939 ohne vorherige Kriegserklärung mit dem Einmarsch der Wehr-
macht in die Polnische Republik der Zweite Weltkrieg. Am 17. September griff die Rote
Armee Ostpolen an, und polnische Truppen, die sich nach Rumänien zurückziehen woll-
ten, wurden in den Schlachten bei Lemberg und Rawa Ruska aufgerieben. Diese zwei
Orte, die Rolf bereits im Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit Kampfhandlungen er-
wähnt hatte, gerieten damit erneut in den Brennpunkt der kriegerischen Auseinander-
setzungen.
Statt einer weiteren politischen Zuspitzung erlebte Tientsin im Sommer 1939 hinge-
gen »ein katastrophales Hochwasser«, sodass weite Teile von Tientsin bis zu 2,50 Meter
unter Wasser standen und Rolf alle Arbeiten einstellen musste. Unter Hinweis auf dieses
Hochwasser meinte Rolf auch, dass sich seine Frau nicht mit der Heimkehr beeilen solle,
wie er seiner Schwester am 20. August schreibt: »Es wird Monate dauern bis das Was-
ser aus der Umgebung abfliesst, und da wird es kein Gemüse geben und weitere Teue-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273