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Wie Rolf die politische Lage dieser Tage erlebte, schildert er Greta im März 1941: »Du
kannst dir nicht vorstellen in welcher Spannung hier Alles lebt. Engländer und Ameri-
kaner haben schon fast alle Frauen und Kinder weggesandt und die Männer sitzen auf
dem Sprung. Man wartet förmlich auf die Explosion Amerika – Japan. Vorerst sollte uns
eine solche nicht direkt berühren, was aber in der Folgezeit daraus wird kann man na-
türlich nicht wissen.« Einmal mehr zeigte Rolf sein Talent, aus allen Situationen das Bes-
te zu machen: »Wir denken sogar daran, wenn hier Nahrungsmittelknappheit verschärft
eintreten sollte, eventuell nach Peitaiho zu übersiedeln, und dort selbst etwas Gemüse
und Kartoffeln zu pflanzen. Wir werden auch über die neuesten und über die noch dro-
henden Schwierigkeiten hinwegkommen.«
Mitte der 40er-Jahre betätigte sich Rolf ein letztes Mal als Architekt. Im Jahr 1945 hei-
ratete seine Tochter Maria ( Mausi ) den deutschen Studienrat Dr. Erich Seyfarth, der seit
1943 an der Deutschen Schule die Fächer Deutsch und Geschichte unterrichtete, und
Rolf beschloss, für das junge Ehepaar und die engste Familie in Tientsin eine gemeinsa-
me »Familienvilla« zu errichten. Gleichsam als krönenden Abschluss seiner Karriere ver-
wendete er für den Außen- und Innenausbau Material von höchster Qualität, das er vor
dem Ausbruch des Krieges aus Österreich importiert hatte und das sich noch in seinem
Lager befand. Interessant ist die Gestaltung dieses Gebäudes. Während in den diktato-
risch regierten Ländern allgemein eine Zuwendung zum Neoklassizismus feststellbar ist,
hat sich in den anderen Ländern der »Internationale Stil«, dessen Gestaltungsweise auf
Stahlbetonskelettkonstruktionen in Verbindung mit großen Glasflächen beruhte, durch-
gesetzt. Wie schon besprochen, ließ Rolfs Architektur ebenfalls schon deutlich die Ten-
denz zu vereinfachten, funktionalistischen Planungen erkennen. Bemerkenswert ist, dass
er jedoch nun, bei der Konzeption seines Familienwohnsitzes in Tientsin, diese Prinzi-
pien verließ und quasi zu seinem Idealbild einer Villa, die er während seiner Gefangen-
schaft immer wieder variierte, zurückkehrte. So wie damals Gestaltungsmittel wie steile
Dächer mit Dachgaupen und die Verwendung von Bruchsteinmauerwerk die Sehnsucht
nach der Heimat verkörperten, erfüllten diese Stilmittel bei der um 1945 erbauten Villa
nun die Funktion der Heimatverbundenheit. (Abb. 116)
Das Haus wurde Ende des Zweiten Weltkrieges fertig und sofort von der US-Marine
konfisziert, die die Aufgabe hatte, die Kuomintang bei der Verteidigung der Stadt gegen
die Kommunisten zu unterstützen. In diesem Zusammenhang wurde auch die nahe gele-
gene Pferderennbahn als Flugfeld bestimmt – wenngleich dort niemals ein Flugzeug lan-
den sollte, wie sich später herausstellte. Wie auch immer, die umliegenden Häuser mussten
für den erwarteten Flugverkehr abgerissen oder zumindest die Stockwerksanzahl verrin-
gert werden. Auch bei Rolfs Villa wurden das erste Stockwerk sowie das Dachgeschoß
abgetragen – eine Maßnahme, die schließlich auf eine Demolierung hinauslief. (Abb. 117)
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273