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88 | Die Entwicklung des Kirchenmobiliars
henden Kapitel betont, fällt auf, dass neben dem Giuliani-Gestühl in Heiligenkreuz
von 1707 (Farbtaf. 10 ; Abb. 148) zwischen 1722 und 1737 in einem eng umrissenen
geografischen Raum westlich von Wien gleich vier solcher Gestühle gefertigt wurden :
in den ehemaligen Augustiner-Chorherrenstiften von St. Pölten und Dürnstein, in
St.
Veit zu Krems und in der Abteikirche des Benediktinerstiftes Melk (Farbtaf.
07, 15,
17 ; Abb. 190, 191).195 Danach folgte in den hier untersuchten Regionen kein Gestühl
mehr, das mit reliefierten Darstellungen verziert worden wäre. Häufig kamen solche
Schnitzarbeiten allerdings an mittelalterlichen Stallen vor. Ein großartiges, um 1480
gefertigtes und entsprechend geschmücktes Exemplar stand bis zum Ende des Zwei-
ten Weltkriegs in St. Stefan in Wien. Es trug geschnitzte Bilder mit Szenen aus der
Vita Christi sowie vollplastische Skulpturen von Propheten, Aposteln und Heiligen.196
Die Gestaltung des Heiligenkreuzer Gestühls sowie der anderen genannten Möbel
führt die Tradition solcher Inventarstücke fort.197
In Verbindung mit dem figuralen Schmuck stellt sich die Frage nach der Lesbarkeit.
Sollten sie wie die im folgenden Abschnitt besprochenen Skulpturen auf den Beicht-
stühlen auch von Laien rezipiert werden ? Es ist offensichtlich, dass sich der Inhalt der
an den Einzelstallen in Dürnstein angebrachten Reliefs (Abb. 115) an die Besucher
der Stiftskirche richtet, da die Tischler die beiden Schnitzbilder nur wenige Meter vor
der ersten Bankreihe gut sichtbar auf Augenhöhe befestigten. Von den Mönchen im
Chorraum konnten sie nicht gesehen werden. Zudem ist das Gestühl in Dürnstein
relativ kurz, sodass auch die übrigen Reliefs von der Kommunionbank aus zu erkennen
sind. Ähnliches mag auf das Gestühl in der Kremser Pfarrkirche zutreffen, gilt aber
nicht für die Stallen in Melk, St. Pölten und Heiligenkreuz. Die Möbel erstrecken
sich schlichtweg zu weit in die Tiefe, als dass es möglich wäre, sämtliche Darstellun-
gen vom Laienraum aus zu lesen. Allerdings war Kirchenbesuchern der Chorraum in
St. Florian nicht verschlossen, sie hielten sich sogar im Gestühl der Mönche auf. Zu
untersuchen wäre, ob das auch andernorts der Fall war. Zweifellos dürften die Reliefs
an den Stallen aber in erster Linie als Ermahnung zu einem gottesfürchtigen Leben
und als Meditationshilfe für die Kleriker gedacht gewesen sein, die sich täglich mehr-
mals zum Chorgebet vor dem Altarraum versammelten. Ähnlich wie im Mittelalter,
als sich die mit Schnitzzierrat reich geschmückten Gestühle noch hinter Lettnern
verbargen, galten die so verzierten Stallen vor allem der Aufmerksamkeit der Mönche
und regten sie zur besonderen Andacht an. Eine zeitgenössische Schriftquelle, die sich
195 Das Chorgestühl von St. Pölten entstand 1722, das in der Stiftskirche von Dürnstein 1724, das in
Krems 1735/36 und das in der Abtei zu Melk ebenfalls 1736.
196 Klebel, Chorgestühl (1925).
197 Im Abschnitt über das Chorgestühl in Heiligenkreuz wird das genauer ausgeführt.
Sakralmöbel aus Österreich
Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus, Band I: Östliche Landsteile
- Titel
- Sakralmöbel aus Österreich
- Untertitel
- Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus
- Band
- I: Östliche Landsteile
- Autor
- Michael Bohr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20512-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 730
- Schlagwörter
- Baroque, applied arts, church furnishings, Barock, Kunsthandwerk, Sakralmöbel
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Teil 1 Vorbemerkungen
- Teil 2 Grundlegendes
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Zur Barockisierung von Weltkirchen und Klöstern 31
- Tischlerwerkstätten in Wien 33
- Tischlerwerkstätten auf dem Land 36
- Zur Größe der Werkstätten 40
- Zur Zusammenarbeit von Tischlern mit andern Handwerkern 41
- Zur Beschaffung des benötigten Holzes 43
- Zur Qualität des Holzes und zum System der Vergütung von Tischlern 43
- Nachlassende Qualität der Tischlererzeugnisse im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert 46
- Zu den verwendeten Materialien 48
- Zur Oberflächenveredelung und Restaurierung 51
- Exkurs : Technische Innovationen als Grundlage der Entwicklung neuer Gestaltungsformen 55
- II. Gestaltungsfragen, Stilformen und Ornamente 58
- III. Die Entwicklung des Kirchenmobiliars 81
- IV. Sakristeien 101
- Ihre Lage innerhalb des Raumgefüges 101
- Der Klosterplan von St. Gallen und frühe Sakristeimöbel 102
- Zur Funktion von Sakristeien, barocke Sakristeieinrichtungen und die Schriften von Carlo Borromeo und Jacob Müller 104
- Altäre und Scheinaltäre 104
- Lavabos 106
- Sakristeischränke und Ankleidekredenzen 107
- Zur Entwicklungsgeschichte der Sakristeischränke 110
- Ankleidetische und Tischkästen 111
- Truhen und Truhenbänke 113
- Beichtstühle 115
- Betpulte, Kniebänke und Bankpulte 116
- V. Mobiliar in Nebenräumen von Kirchen und Klöstern 118
- VI.Zur Hierarchie von Räumen und Möbeln 127
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Teil 3 Katalog – Beiträge zu den Sakralanlagen – Tafeln
- Hinweise 133
- Hinweise zu Provenienzen, Datierungen und Materialien 133
- Hinweise zu den angegebenen Maßen 133
- Hinweise zu den zitierten Schriftquellen 134
- I. Sakralbauten in Wien 135
- II. Sakralbauten in Niederösterreich 247
- Altenburg, Benediktinerstift 247
- Ardagger, Pfarrkirche hl. Margarete 260
- Dürnstein, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt 264
- Geras, Prämonstratenser-Chorherrenstift 283
- Göttweig, Benediktinerstift 294
- Heiligenkreuz, Zisterzienserstift 315
- Herzogenburg, Augustiner-Chorherrenstift 335
- Horn, Piaristenkirche 347
- Klosterneuburg, Augustiner-Chorherrenstift 352
- Krems, Piaristenkirche 367
- Krems, Pfarrkirche St. Veit 380
- Lilienfeld, Zisterzienserstift 386
- Melk, Benediktinerstift 408
- St. Marein, Pfarrkirche hl. Maria 434
- St. Pölten, Dom- und Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 436
- Seitenstetten, Benediktinerstift 452
- Wiener Neustadt, Zisterzienserstift Neukloster 466
- Zwettl, Zisterzienserstift 477
- III. Sakralbauten in Oberösterreich 500
- Baumgartenberg, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 500
- Kremsmünster, Benediktinerstift 512
- Lambach, Benediktinerstift 534
- Linz, Jesuitenkirche (Alter Dom) 551
- Linz, Karmelitenkloster 566
- Linz, Seminarkirche Hl. Kreuz 572
- St. Florian, Augustiner-Chorherrenstift 580
- Schlägl, Prämonstratenser-Chorherrenstift 607
- Schlierbach, Zisterzienserstift 621
- Waldhausen, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 631
- Wilhering, Zisterzienserstift 638
- Teil 4 Zusammenfassung und Ausblick – Glossar – Verzeichnisse –
- Literatur
- Zusammenfassung und Ausblick 659
- Zum Aufbau des Buchs 659
- Historischer Abriss 660
- Entwicklungsgeschichte der Kirchenmöbel 661
- Zur Einrichtung verschiedener Räume in Kirchen und Klöstern 662
- Zur Hierarchie sakraler Einrichtungen 663
- Die Auftraggeber und ihr Einfluss auf die Kunstentwicklung 663
- Zum Verhältnis zwischen Auftraggebern, Architekten und Handwerkern 665
- Zu den Tischlern 665
- Stilistische Entwicklung der Möbel 666
- Regionale Besonderheiten 667
- Fazit und Ausblick 668
- Glossar 670
- Ortsindex 678
- Künstlerverzeichnis 682
- Abkürzungsverzeichnis 688
- Abbildungsnachweis 692
- Literaturverzeichnis 693