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31Der
Landespatriotismus
schen der alten Adelsnation und der revolutionären Volkssouveränität
bot.
Die Landespatrioten schrieben das kulturhistorische Modell der
Spätaufklärung fort, sie gingen von wandelbaren Kulturzuständen aus,
die je nach Lebensmilieu der Landesbewohner und Gemütsverfassung
derselben variierten. Das Konzept eines überzeitlichen, unwandelba-
ren und einsprachig codierten Nationalcharakters hatte hier keinen
Platz. Der patriotische Adel in den Ländern der Monarchie, der Son-
nenfels’ Appell beherzigte und sich die Verdienstethik der Vaterlands-
liebe zu eigen machte, blieb dem spätaufklärerischen Denkrahmen
verpflichtet. Die Adeligen öffneten ihre Bibliotheken, Lustgärten und
Orangerien für das Publikum, sie stifteten Museen und Theater und
lobten Preise für historische Darstellungen der Landesgeschichte aus.24
Den ständisch bestallten Landeshistoriografen gewährten sie Zutritt
zu ihren Schloss- und Familienarchiven.25 Erst im Rückblick stri-
chen die alten Landespatrioten ihre Hellhörigkeit für die angebliche
Germanisierung der josephinischen Zeit heraus und stilisierten sich
zu Opfern der »Reaktion«, suggerierten also, sie hätten sich in einer
»staatsfernen« Sphäre eingeigelt und das Terrain der Kultur bestellt,
weil auf dem Gebiet der Politik nichts zu gewinnen gewesen sei.26
Beide Akzente werden erst im späteren Vormärz gesetzt, so etwa beim
Naturforscher und ständischen Herrn Graf Kaspar Sternberg, der in
24 Josef Hanuš, Národní museum a naše obrození: K stoletému jubileu založení
musea [Das Nationalmuseum und unsere Wiedergeburt: Zum hundertjäh-
rigen Jubiläum der Museumsgründung], 2 Bde., Praha 1921-1923, Bd. I,
Kulturní a národní obrození šlechty ceské v XVIII. a v prvé půli XIX století.
Jeho význam pro založení a počátky musea [Das kulturelle und nationale
Erwachen des böhmischen Adels im 18. und in der ersten Hälfte des 19.
Jahr-
hunderts. Seine Bedeutung für die Gründung und die Anfänge des Muse-
ums], 83, Bd. II, Založení vlasteneckého musea v Čechách a jeho vývoj do
konce doby Šternberkovy (1818-1841) [Die Gründung des Vaterländischen
Museums für Böhmen und seine Entwicklung bis zur Ende der Ära Stern-
berg], 468-469.
25 Vgl. Franz X. Richter, Über das concentrische Zusammenwirken der inner-
österreichischen Geschichtsforschung, in: StZ, N. F. 1 (1834), 19-24; Josef
Borovička, Česká Praha a Moravan Boček. Z historie vědeckých styků Čech
a Moravy v době předbřeznové [Das böhmische Prag und der mährische
Boček. Aus der Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen
Böhmen und Mähren während des Vormärz], in: ČSPS 66 (1958), 144-157.
26 Franz L. Fillafer, Imperium oder Kulturstaat? Die Habsburgermonarchie
und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert, in: Philipp
Ther (Hg.), Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in
Europa im Vergleich, Wien; München 2012, 23-53, 44-45.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513