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50 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
setze sollte im Verbund mit dem individuellen wohlverstandenen Ei-
gennutz patriotische Empfindungen einflößen. Der einzelne Bürger be-
zog sich über den Schutz des Eigentums, die Gleichheit vor dem Gesetz
und dem Monarchen sowie über die Pflege der Muttersprache auf sein
Vaterland, die Gesamtmonarchie. Diese legalozentrische Definition der
Vaterlandsliebe bestimmte bis 1848 den Denkrahmen der aufgeklärten
Bürokratie. Sonnenfels war kein selbstgenügsamer Gelehrter, sein Pa-
triotismus kein Orchideenthema, vielmehr wollte er den Lebensnerv
der gebildeten Öffentlichkeit treffen und auf alle Schichten wirken. Der
Sprachpatriotismus, den Sonnenfels anregte, vor allem aber sein Plädo-
yer an den müßiggängerischen Adel, den »entbehrlichsten« Stand der
bürgerlichen Gesellschaft, sich dem Wohl des Vaterlandes zu weihen,
trug reiche Früchte. Der Adel, der in Sonnenfels’ Schule gegangen war,
münzte diesen Appell in partikulare Landespatriotismen um, die um
1800 gerade auch aus der Erfahrung mit dem josephinischen Zentralis-
mus heraus formuliert wurden: So wurde der Landespatriotismus mit
der von seinen Anhängern lancierten Politisierung der Kultur zu einem
dritten Weg jenseits der alten Adelsnation und der revolutionären
Volkssouveränität; er erlaubte es den Angehörigen der Adelsnation ge-
rade zu jener Zeit, als die Grundlage ihrer ständischen Herrlichkeit im
Rahmen der alten Verfassung, das souveränitätsbegründende Oberei-
gentum auf den Ländern der Grunduntertanen, erodierte, ihr Prestige
als patriotische Mäzene neu zu begründen.
Der Aufschwung des Landespatriotismus transformierte die ethisch-
private Definition der Vaterlandsliebe, an ihre Stelle trat eine territori-
alisierte, landesspezifische Semantik. Die Landespatrioten mussten die
beschriebene Asymmetrie verarbeiten: Die Mehrsprachigkeit, von der
vollmundig die Rede war, blieb immer die der nichtdeutschsprachigen
Bürger, wer das Deutsche von Haus aus beherrschte, machte selten
Anstalten, die anderen Landessprachen zu erlernen. Der Landespatrio-
tismus im Dienst des mehrsprachigen Vaterlands fiel der Entwicklung
der Spracherneuerung zum Opfer, die er selbst eingeleitet hatte.
Joseph von Hormayrs sprachlich-kulturell gefärbter Nationalismus
war als Gegenentwurf zum französischen und josephinischen Ein-
heitsstaat konzipiert. Die Vaterlandsliebe Hormayrs erschöpfte sich
weder im Rechtsstaat der Josephiner noch im dynastisch-christlich
aufgeputzten Paternalismus der Restauration, das geheiligte Band der
Sprachnation stiftete hier die ersehnte Einheit. Was Hormayrs Kreis
mit den Landespatrioten der Monarchie verband, war die Ablehnung
der josephinischen Verschmelzung der Länder zu einem zentral ge-
lenkten Konglomerat. Wie die Landespatrioten auch schrieb Hormayrs
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513