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157Kultusrecht
und Staatshandeln im Vormärz
das bedeute aber nicht, dass der Monarch an der allein seligmachenden
Wahrheit des katholischen Glaubens gezweifelt habe. Im Umgang mit
Akatholiken, heißt es in den Pfarrblättern und Fibeln zur Toleranz-
praxis im Alltag, lege der katholische Bürger Geduld und Sanftmut
an den Tag, glänze durch Sittlichkeit und Mildtätigkeit, er beweise
die segensreichen Wirkungen seines Glaubens durch seine untade-
lige Erfüllung der »Pflichten der Humanität« in Beruf, Familie und
Gemeinwesen.109 Eben diese Nuancen hat die Geschichtspolitik des
19. Jahrhunderts verwischt, als sie Joseph II. zum Gründervater des
Liberalismus erhob. Zugleich entstand so der Eindruck, die Liberalen
des Jahres 1848 hätten den österreichischen Rechtsstaat aus dem Hut
gezaubert, war der Vormärz doch eine Epoche klerikaler Repression.
Was durch dieses Geschichtsbild in Vergessenheit geriet, war die
tagtägliche Verwaltungsarbeit der Hofstellen und Landesbehörden,
die zu einer praktischen Fortbildung des Kultusrechts führte. So ist
es der Forschung bisher entgangen, dass die vormärzliche Beamten-
schaft das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 benützte,
um in binnenimperialer Justierung zwischen den Überlieferungen
der Einzelländer ein Maximum an bürgerlicher Gleichberechtigung
in allen Gliedstaaten der Monarchie zu etablieren. In jenen König-
reichen, in denen das Toleranzpatent nicht galt oder seine Gültigkeit
umstritten war – vor allem in den abermals oder neuerlich erworbenen
Ländern Galizien, Dalmatien, Istrien und Venezien – erhob sich nach
1815 der Protest der örtlichen katholischen Bischöfe: Sie versuchten
nachzuweisen, dass die Andersgläubigen auf ihrem Diözesangebiet
ihre Re ligion allenfalls privat ausüben dürften. Die Hofkanzlei und
die lokalen Gubernien drehten hier rasch den Spieß um: Wo das Tole-
ranzpatent nicht gelte, habe man sich an das ABGB zu halten, dass die
bürgerliche Gleichheit ohne Ansehen der Religion ermögliche.110
Die einzige markante Verschärfung der Rechtsbestimmungen in der
vormärzlichen Zeit betraf das Eherecht. Das Ehepatent Josephs II.
hatte den Heiratsvertrag als säkulare Transaktion gestaltet, das ABGB
von 1811 folgte weitgehend dieser Vorgabe, sah aber staatliche Be-
stimmungen zur Regulierung sogenannter »Judenehen« vor. Ab 1817
wurde getrennt lebenden Katholiken per Hofdekret die abermalige
Verehelichung untersagt, damit wurde durch den Gesetzgeber ein
109 Schumann von Mansegg, Ueber die Grenze zwischen Toleranz und Indiffe-
rentismus, 256-257.
110 Dazu Franz L. Fillafer, Das Imperium als Rechtsstaat: Johannes Feichtin-
ger, Heidemarie Uhl (Hg.), Post Empire. Habsburg-Zentraleuropa und die
Genealogien der Gegenwart [im Druck].
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513