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190 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
tenlektionen, Exerzitien, fromme Übungen – als unverfänglich und
regimetreu zu präsentieren.
Schon 1848 hatte die Wiener Kirchenzeitung gemutmaßt, dass die
»Slawen« in Böhmen es darauf anlegten, »das deutsche Element und
die katholische Kirche in einem stürzen«.206 In Prag beschwerte sich
Johann Emanuel Veith darüber, dass ihm Kaplan Václav Štulc, den
er als den »gesalbten Bacchus des Liberalismus«207 bezeichnete, die
Fastenpredigten verleiden wolle: »Etwelche tschechische Hegemonen
wollten mich ganz beseitigen […] damit das deutsche Element nicht
aufkomme.«208 Štulc wiederum mokierte sich grob über Veiths jü-
dische Herkunft, das »beschnittene Pfäfflein« Veith sei immer noch
kein echter katholischer Priester,209 während Günther im April 1851
über die Prager Situation klagte: »Auch ist jeder Deutsche, der kein
Bolzanist ist […] verrathen und verkauft.«210
Die Verdikte über den Vormärz nach 1848 und das Spektrum der
Positionen während des Neoabsolutismus lassen sich im Rahmen der
Strategien nachrevolutionärer Schadensbegrenzung erklären. Es ist
wenig überraschend, dass der Vorwurf der Bigotterie und Rückstän-
digkeit, den die deutschösterreichischen Liberalen des späten Vormärz
vor allem gegen die katholischen Slawen der Monarchie erhoben,
nach 1848 im Kontext postrevolutionärer Selbstexkulpation eine neue
Funktion erhielt. In den 1850er Jahren verwies der regimetreue Klerus
stolz auf seine vormärzlichen Prognosen über die Entfesselung des
Radikalismus und Liberalismus, die sich in der Revolution von 1848
bitter bewahrheitet hätten. Die klerikal-austroslawistische Perspektive
wurde sowohl gegen den magyarischen Nationalismus als auch gegen
206 [Hermann Dichtl?,] Prag, am Feste der allerh. Dreieinigkeit 1848, in: WK
1. 7. 1848, 160. Von der »slavisch antizölibatären Afterfrucht« am Baum der
böhmischen Kirche schrieb Dichtl im Juni 1848, Kurt Augustinus Huber,
Hermann Dichtl (1802-1877), in: ders., Katholische Kirche und Kultur in
Böhmen. Ausgewählte Abhandlungen, hg. v. Joachim Bahlcke u. Rudolf
Grulich, Münster 2005, 493-553, 535.
207 Eduard Winter, Revolution, Neoabsolutismus und Liberalismus in der
Donaumonarchie, Wien 1969, 95; Václav Štulc, Klement Maria Hoffbauer.
Životopisný nástin [K. M. Hofbauer. Eine biographische Skizze], Praha
1859, 34-36.
208 J. E. Veith an Hoffinger, 16. 3. 1852, zit. n. Eduard Winter, Einleitung, in:
Domprediger Johann Emanuel Veith und Kardinal Friedrich Schwarzen-
berg, 22; Vgl. [Anonym,] Die Aufgabe der Slawen, in: WK 18. 1. 1852, 41.
209 Winter, Revolution, Neoabsolutismus und Liberalismus, 95.
210 Anton Günther an Johann N. Ehrlich, 30. 4. 1851, Knoodt, Anton Günther,
Bd. II, 71.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513