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292 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
Was machten die liberalen Bürger, Beamten und Juristen des Vor-
märz aus Sonnenfels’ Staatswissenschaft? Inwiefern ließen sie sich von
seiner Lehre anregen? Vier Dimensionen stechen hier hervor:
Erstens Sonnenfels’ Begriff des »allgemeinen Besten«: Für Sonnen-
fels bestand das Gemeinwohl nicht mehr in der optimalen fürstlichen
Verfügung über die Schatzmasse des Staates, sondern in der »Summe
der einzelnen Besten«,117 das heißt: In der Steigerung des individuellen
Reichtums der Bürger.118 Das »allgemeine Beste« ließ sich also durch
die Befriedigung individueller Bedürfnisse und durch die Rechtssi-
cherheit der Bürger realisieren.119 Die allgemeine Glückseligkeit ver-
stand Sonnenfels folglich nicht mehr als aufgepfropfte Wohltat, die der
Staat seinen Untertanen angedeihen ließ, sondern als ein Ergebnis des
geselligen Verkehrs, der Vervielfältigung der Beschäftigungszweige.
Sowohl die positive Außenhandelsbilanz als auch das Bevölkerungs-
wachstum standen im Dienste dieser Idee.
Zweitens löste sich Sonnenfels’ Wissenschaft von der Chrematistik,
der Kunst, den fürstlichen Reichtum zu mehren: Stattdessen befasste
sie sich mit der Wechselabhängigkeit der Bürger untereinander, die sie
förderte und deren Gesetzmäßigkeiten sie untersuchte. Anders als den
Kameralisten galt Sonnenfels nicht mehr die familiäre Vorratsökono-
mie als Modell der Staatshaushaltung, er propagierte die Verflechtung
der bürgerlichen Haushalte, die durch die Steigerung des Erwerbs,
Handels und Verzehrs eintreten würde. Diese Interdependenz sollte
schließlich den Fürsorgeprimat des Staates in vielen Bereichen über-
flüssig machen.
Sonnenfels entwarf drittens ein ausgeklügeltes System der Wohl-
fahrtspolizei. Anders als man vermuten könnte, stand auch hier der
bürgerliche Reichtum an der Spitze die Staatszielpyramide: Laut
Sonnenfels wirkte der Staat durch Anreize, Belohnungen und Ermah-
nungen effektiver als durch Konfiskationen, Umwidmungen und Ver-
bote.120 Die Kernaufgabe, die Sonnenfels dem Staatshandeln zudachte,
117 Felix Spitzer, Sonnenfels als National-Ökonom, Bern 1906, 30.
118 Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein
Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des
späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, München 1977, 255.
119 Seinem Vorgänger Johann Gottlieb von Justi wies Sonnenfels eine logische
Erschleichung nach: Der »Endzweck« des »allgemeinen Besten« dürfe nicht
zugleich als »Prüfungssatz« für dessen Erreichung dienen, dieser Zirkel-
schluss öffne willkürlichen Auslegungen des normativen Gehalts der Glück-
seligkeit Tür und Tor, Sonnenfels, Grundsätze, I, 32-33.
120 Osterloh, Sonnenfels, 108, 115, 132, 204.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513