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336 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Universitäten blieben im Geiste Josephs II. Anstalten, die vor allem
auf den Brotberuf im Staatsdienst vorbereiten sollten, daneben aber
teils immer noch, wie gerade die »Hauptuniversitäten« Prag und Wien,
satzungsmäßige Korporations- und Finanzautonomie genossen.
Die Jurisprudenz der restaurativen Habsburgermonarchie bis 1848
scheint sich in dieses Bild zu fügen, sie stand, so suggeriert das ver-
traute Lehrbuchwissen, im Banne des Naturrechts. Das mag für sich
schon überraschend sein, war das Naturrecht doch nach landläufiger
Auffassung die intellektuelle Grundlage der Französischen Revolution
und das Hauptscharnier zwischen Aufklärung und Liberalismus. Wie
kam es, dass das Naturrecht unter Franz I. weiterhin beträchtliches
Prestige genoss? Was bedeutete das für das Verhältnis der Aufklärung
zur Restauration und zum frühen Liberalismus? Eben diesen Fragen
widmen sich die folgenden Seiten. Sie unterziehen das herkömmliche
Bild des Rechtsstaats und der Jurisprudenz zwischen Spätaufklärung
und Vormärz einer Revision. Dabei wird das Naturrecht auf seine
wissenschaftlichen und politischen Funktionen hin befragt und das
Klischee über seine unangefochtene Dominanz widerlegt, indem ver-
schiedene Typen des juristischen Liberalismus rekonstruiert werden.
Darüber hinaus wird die Bedeutung juristischer Verfahren für die
Staatsbildung herausgearbeitet, das geschieht vor allem anhand der
Kodifikation und der Gewaltenteilung.
Die Rechtsgeschichte hat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts eifrig daran gearbeitet, die Jurisprudenz des Vormärz in den düs-
tersten Farben zu schildern. Alleinige Würdigung erfuhr die Großtat
des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) von 1811, dessen
Bedeutung in der Tat kaum zu überschätzen ist. Zu wenig wurden
dabei die wissenschaftlichen und gesetzgebungspolitischen Voraus-
setzungen der Kodifikation beachtet, die hier detailliert analysiert
werden. Das allgemeine Rechtsleben vor 1848 wurde als geistlos ab-
gestempelt, die Jurisprudenz habe sich vom Ausland abgeschottet und
sei in der öden Wiedergabe antiquierter Wissensbestände erstarrt, sie
habe sich in der buchstabengetreuen Auslegung des ABGB erschöpft,
diese sogenannte »exegetische Schule« übergoss man mit Häme. So
wurde der Vormärz im Rückblick zur toten Zeit.
Im Folgenden wird gezeigt, dass die vormärzliche Rechtswissen-
schaft weit farbiger und facettenreicher war, als ihre Verächter nach
1848 zugestehen wollten. Selbstverständlich erforderten die Rechts-
fortbildung anhand des ABGB und die kreative Auslegung von Hof-
dekreten vor der Revolution andere Techniken und Formate als im
Neoabsolutismus: den Kassiber, das feine Schweigen, das subkutane
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513