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352 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
jüdische Paare waren laut ABGB für den Eheschluss Konsense des je-
weiligen Kreisamts erforderlich,59 zudem war in § 119 von der Wieder-
verheiratung geschiedener Eheleute die Rede, während laut § 115 für
Katholiken ausdrücklich keine Scheidung dem Ehebande nach mög-
lich war,60 sondern nur eine Trennung, welche die Wiederverheiratung
ausschloss. Für andere Konfessionen war die Scheidung sehr wohl
gestattet.61 Weitere Einschränkungen der Privatautonomie ergaben
sich für Frauen, deren Parität im Ehegüterrecht verbrieft war,62 denen
für den Fall, dass der katholische Pfarrer als Seelsorger einen Eheschluss von
Nichtkatholiken »ohne Roquet und Stolle« beurkunden müsse, ebda., 411.
59 Stefan Schima, Das Eherecht des ABGB 1811, in: BRÖ 2 (2012), 13-26, 21-22.
60 Vgl. Kap. III.3 oben. Die Sakramentalität und Unauflöslichkeit der Katho-
likenehe wurden durch das impedimentum catholicismi, mit dem Hofdekret
vom 26. 8. 1814 offiziell festgestellt: Trennungsgründe, die bei Juden und
Protestanten zur Scheidung mit Möglichkeit der Wiederverheiratung führ-
ten, bewirkten bei Katholiken lediglich die Trennung von Tisch und Bett.
Laut § 116 war die Wiederverheiratung akatholischer geschiedener Bürger
mit Katholiken erlaubt, das war selbst für solche Untertanen möglich, die
während ihrer Ehe zum Katholizismus konvertiert waren und sich dann hat-
ten scheiden lassen, auch solange ihr vormaliger Ehegatte noch lebte. Eben
das wurde mit dem Hofdekret von 1814 unterbunden, Brauneder, Eheschlie-
ßung ohne Trauung, 413. Da für den Katholiken keine Scheidung möglich
war, hatte sozusagen für ihn auch die Scheidung akatholischer Mitbürger
keine Gültigkeit, für ihn galten sie weiterhin als verheiratet. Ein Katholik
durfte keinen geschiedenen Akatholiken heiraten, es sei denn, dessen Ehe-
gatte war verstorben.
61 Hier hat der Begriff der »Allgemeinheit« plötzlich den Beigeschmack des
»Katholischen« (ƩƠƧƮƪƨƩфư, allumfassend), des für die Katholiken gültigen
Eherechts. Zeiller spricht von den »Nichtkatholischen vermöge ihrer Re-
ligionsbegriffe zugestandenen Ausnahmen von dem allgemeinen Eherechte«,
Ofner, Ur-Entwurf, II, 471.
62 »Unser Gesetzbuch macht im Allgemeinen keinen Unterschied zwischen
dem männlichen und dem weiblichen Geschlechte, woraus, ohne dass es
ausdrücklich zu sagen nothwendig war, schon von selbst fließt, dass in
der Regel beyden Geschlechtern gleiche Privat-Rechte zustehen«, Zeiller,
Commentar, Bd. I, 116, Fn. *. Zum Mann als Familienoberhaupt, dem das
vorzügliche Recht der Leitung des Hauswesens zukommt (§ 91 aF), Ursula
Flossmann, Die beschränkte Grundrechtssubjektivität der Frau. Ein Beitrag
zum österreichischen Gleichheitsdiskurs, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in
der Geschichte des Rechts, München 1997, 293-324; differenziert Meissel,
De l’esprit de modération, 283-286. Die Frau ist laut ABGB voll geschäftsfä-
hig, benötigt keinen ehemännlichen Beistand und kann, so sie sich vertreten
lassen will, auch jemand anderen als ihren Ehegatten bevollmächtigen. Laut
§ 1233 konstituiert die Ehe noch nicht automatisch eine Gütergemeinschaft
–
die Ehefrau bleibt Alleineigentümerin ihrer Güter –, eine solche muss erst
eigens vertraglich errichtet werden. Der Ehemann ist zwar verpflichtet, die
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513