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358 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
als »freitätige Wesen« bestehen können.80 Zudem war Zeillers Rechts-
begriff mit kantianischen Bestimmungen gesättigt; Wolffs Definition
des Naturrechts beruhte auf der Reziprozität, der Reflexduplikation
von Pflichten (officia erga alios): Das natürliche Recht schützte den
legitimen Anspruch darauf, dass auch alle anderen Normadressaten
sich pflichtgemäß verhielten. Mit Wolffs paternalistischer Staatsziel-
lehre stand diese Kongruenz der Pflichten in enger Verbindung, sie
flankierte das Wirken des weisen Gesetzgebers, der die Begierden und
Bestrebungen der Bürger koordinierte.81
Franz von Zeiller machte sich nicht nur Kants Definition zu eigen,
die das Recht von der Freiheit statt von der Glückseligkeit und wech-
selseitigen Pflichterfüllung ableitete, von fundamentaler Bedeutung war
für Zeiller auch Kants Trennung von Recht und Moral.82 Zwischen der
äußeren Bejahung und der inneren Billigung der Gesetze galt es penibel
zu unterscheiden, damit trat die Gesetzeskonformität an die Stelle der
Gesetzestreue; das Gesetz war kein Tugendkatalog mehr, aus dieser
Entlastung ergab sich die moralische Eigenverantwortung der Bürger:
Wer die Sittlichkeit dem sinnlichen Wohlsein nachsetzet, die Cultur
seiner geistigen und körperlichen Kräfte vernachlässiget, durch Sin-
nesgenuß seinen Geist und Körper schwächet, und seine Lebens-
dauer verkürzet, hat zwar die natürlichen Folgen des Lasters, die
Vorwürfe seines Gewissens und Gottes Gericht, aber eine äußere
nötigende Einschränkung hat er nur dann zu besorgen, wenn er
dabei andere beeinträchtigt.83
Welchen Umfang aber hatte die Aufsichtsbefugnis der Obrigkeit, wie
ließen sich die natürlichen Urrechte mit den positiven Rechten in der
bürgerlichen Gesellschaft vermitteln? Für Kant stand jede staatlich or-
ganisierte Machtordnung unter dem Vorbehalt des »Rechtsbegriffs«:
Erst durch die Subsumption unter diesen Rechtsbegriff erhielt die
Ordnung den Charakter einer objektiv gesollten Rechtsordnung, die
trotz ihrer notwendigen Unvollständigkeit und Unvollkommenheit
80 Franz von Zeiller, Das natürliche Privat-Recht, 2. Aufl., Wien 1808, § 3.
81 Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, 63-64, 136.
82 Herbert Hofmeister, Bürger und Staatsgewalt bei Franz v. Zeiller. Erörte-
rungen zu Zeillers Staatsrechtslehre anhand einer Vorlesungsmitschrift aus
1802, in: Diritto e potere nella storia Europea. Atti del quarto congresso
internazionale della Società Italiana di Storia del Diritto in onore di Bruno
Paradisi, Firenze 1982, 1007-1029, 1011 (Hobbes).
83 Zeiller, Das natürliche Privat-Recht, § 43.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513