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364 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
rung« und »Reaktion« nach einem Zufallsschlüssel verteilt, wie die
Gewinnaussichten von Jetons auf einem Roulettetisch. Hier gewinnt
mit Sicherheit die Bank – über die eigentliche Frage, was das Natur-
recht für die Jurisprudenz zu Zeillers Lebzeiten bedeutete, und ob es
als Botenstoff zwischen Aufklärung und Liberalismus fungierte, erhält
man so keinerlei Aufschluss.
Dass Zeiller sich weigerte, Martinis Grundrechtskatalog in das
ABGB zu übernehmen, entsprang seiner Entscheidung, präpositive
Rechte nicht in das Gesetz einzubauen.102 Damit brach Zeiller über
einen Grundrechtskatalog den Stab, der im wolffianisch-vernunft-
rechtlichen Modus das Recht als das »an sich Gute« definierte103, der
zwischen angeborenen Rechten und »Glücksgütern«, also »zufälligen
Vorrechten«, unterschied. Das Ausscheiden des Grundrechtsteils war
also keine »reaktionäre« Retourkutsche Zeillers an die Adresse des
»Aufklärers« Martini, sondern Resultat rechtsdogmatischer Erwägun-
gen: Zeiller erkannte die äußere Freiheit als die Bedingung für die
Erfüllung des Sittengesetzes, er leitete das Recht nicht mehr aus den
moralischen Pflichten der Berechtigten ab104 und wollte das Privat-
recht von den Überresten der »metaphysischen Rechtslehre« säubern.
Schon 1792 hatte Hofrat Franz von Keeß105 erfolgreich argumen-
tiert, dass der in § 2 des Josephinischen Gesetzbuchs enthaltene Pas-
sus, der die landesfürstliche Gewalt als Quelle der Verbindlichkeit
der Gesetze bezeichnete, im endgültigen Privatrechtskodex entfallen
könne, weil »er zu den Verhältnissen der Bürger unter sich nicht
gehört«.106 1807 bemerkte Zeller, dass die »berüchtigte« Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich, »zu den gefährlichsten
Mißdeutungen Veranlassung« gegeben habe und fügte hinzu, dass eine
solche Aufzählung eben auch deshalb »überflüssig« sei, weil »diese
Rechte jedem schon durch die Vernunft einleuchten«.107 Aufnahme ins
102 Vgl. auch Josef Mauczka, Die Anwendung der Theorie der Interessenkol-
lisionen auf die »angeborenen Rechte«, in: Festschrift ABGB, Bd. II, 229-
293, 232.
103 Ofner, Ur-Entwurf, I, i, iii, §§ 1-8.
104 Mauczka, Die Anwendung der Theorie der Interessenkollisionen, 234.
105 Vgl. Josef Koloman Binder, Hugo Suchomel, Zur Lebensgeschichte des
Hofrats Franz Georg Edlen von Keeß, in: Festschrift ABGB, Bd. I, 355-377.
106 Harrasowsky, Codex Theresianus, V, 5, Fn. 2.
107 Franz von Zeiller, Vortrag zur Einführung in das Bürgerliche Gesetzbuch
(28. 12. 1807), in: Ofner, Ur-Entwurf, II, 471; Zeiller, Commentar, Bd. I,
§ 16, Anm. 5, 106. So war schon im Dezember 1795 der Tenor der Gesetz-
gebungskommission gewesen, derlei Rechtfertigungsbestimmungen und
materialrechtliche Garantien seien Stoff für »eine sogenannte Constitution«,
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513