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444 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
des Kaisers, der Hofkanzlei und des Staatsrats, die befürchteten, mit
dem Naturrecht werde den angehenden Staatsdienern und Seelsorgern
das Gift der Revolution in die Ohren geträufelt. Zeiller entkleidete
das Naturrecht vordergründig seiner anstößigen öffentlich-rechtli-
chen Qualität, durch die Arbeit der Kodifikationskommission wurde
es zum Fundament eines vermeintlich metapolitischen bürgerlichen
Gesetzbuches.
Die 1790er Jahre waren geprägt von einem Zielkonflikt über die
Kodifikation des öffentlichen und bürgerlichen Rechts. Joseph von
Sonnenfels’ beherzt lancierte Kodifikation des Verwaltungs- und Ver-
fassungsrechts, der »Politische Kodex«, kam nicht zustande, die von
Sonnenfels in das Privatrecht hineinreklamierten verfassungsrechtli-
chen Bestimmungen wurden von den Kodifikatoren erfolgreich abge-
wiesen. Das dem Anschein nach apolitische und allgemein-objektive
Gesetzbuch gab sich leitbildfrei: Weder die von Sonnenfels monierten
staatsbürgerlichen Wohlfahrtszwecke noch die wolffianische Pflich-
tethik, die sittliche Veredelung der Untertanen, waren Gegenstände
des Privatrechts.
Der von Carl Anton von Martini ausgearbeitete Grundrechtskata-
log blieb im Gesetzgebungsprozess auf der Strecke, er wurde zwischen
dem wohlfahrtsstaatlich grundierten Verfassungsvorhaben Sonnenfels’
und Zeillers puristischer Privatrechtskonzeption zerrieben.
Die vordergründige Entpolitisierung und Privatisierung des Natur-
rechts beruhte auf spezifischen juristischen Normermittlungstechni-
ken. Der gesetzmäßigen Proklamation der Privatautonomie und all-
gemeinen Rechtsfähigkeit war eine beträchtliche Abstraktionsleistung
vorgeschaltet: Der ständisch abgestuften Gesellschaft von Ungleichen
unterlegten Zeiller und seine Mitarbeiter ein Ensemble allgemeiner,
standesneutral formulierter Rechtsformen, die allen Bürgern gleicher-
maßen zugänglich sein sollten. Diese Universalität entstand durch
eine entstofflichende Verallgemeinerung von Rechtsfiguren, die von
den Redakteuren des Gesetzbuchs aus ihrem sozialen Gefüge her-
ausgeschält wurden. Adelige Vorrechte wurden im Sinne der Strin-
genz des »Allgemeinen« nivelliert – so fielen etwa die Erbpacht- und
Bodenzinsverträge in das Hauptstück der nicht ständisch limitierten
Miet- und Pachtverträge, auch der Familienfideikommiss wurde stan-
desneutral gefasst – während die Gesetzgeber zugleich Versatzstücke
aus der Sozialverfassung des Bürgertums verallgemeinerten (Heirats-
brief, Gütergemeinschaft). Die auf diese Weise herbeiabstrahierte
Allgemeinheit des liberalen Eigentums- und Vermögensprivatrechts
war auch sozialgeschichtlich hoch relevant: Indem die Kodifikatoren
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513