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4.1. Die Wiege des ästhetischen Formalismus? – Kants Kritik der Urteilskraft
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findet man bei Hanslick die bereits zitierte Identität von Inhalt und Form: „Wo
nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da exis-
tirt auch kein selbstständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt und
Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit
verschmolzen.“ Hanslick schließt hieraus: „Bei der Tonkunst giebt es keinen
Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat außerhalb dem Inhalt“
(VMS, S. 165). Dass sich der Inhalt von Musik aus ‚tönend bewegten For-
men‘ rekrutiere, unterläuft die entsprechende Unterscheidung, die von der
Kant’schen Urteilskritik weiterhin getroffen wird. Mit den ‚tönend beweg-
ten Formen‘ sind elementarste Komponenten der musikalischen Komposition
charakterisiert, die strukturelle Verknüpfung von thematischen Abteilungen,
genau gesagt: „Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte
musikalische Idee aber ist bereits selbstständiges Schöne, ist Selbstzweck und
keineswegs erst wieder Mittel oder Material der Darstellung von Gefühlen
und Gedanken“ (VMS, S. 75). Hanslicks Hypothese zur Identität von Inhalt
und Form ist von Payzant als das zentrale Kriterium des Hanslick’schen ‚For-
malismus‘ gefasst worden: „Hanslick is almost alone among formalists in the
following respects: he insists that music has its content as its form, or, what
is the same thing, its form as its content.“980 Wie Kivy richtig betont, ist die
musikalische Denkleistung durch diese innovative Konzeption der formalen,
logischen Struktur auf eine Ebene mit rationaler Reflexion gehoben, was das
Kant’sche Dilemma der semantischen Ungenauigkeit von ‚reiner‘ Musik auf-
hebt. Aber wenn man die divergente Bedeutung des Worts ‚Form‘ in Hanslicks
VMS-Traktat und Kants Lehre in ihrem ganzen Ausmaß erkennt, kann auch
der offenbare Gleichlauf ihres jeweiligen Vokabulars die generelle Methode der
Ableitung Hanslicks aus Kants Kritik nicht mehr stützen. Dahlhaus bemerkt
folglich zu Recht: „Der Formbegriff Kants ist denn auch von dem Eduard
Hanslicks so verschieden, daß es irreführend ist, sie im gleichen Gedanken-
zuge zu nennen.“981
Wenn oben zahlreiche vorstellbare Kohärenzen von Hanslicks VMS-Trak-
tat und Kants Kritik der Urteilskraft untersucht wurden, soll mein Kapitel
nun mit der gestrafften Erörterung ihrer eklatantesten Widersprüche zum
Abschluss kommen. Hierbei könnten ziemlich auffallende Thematiken erör-
tert werden, die keiner weiteren Analyse bedürfen, wie z.B. Kants These, dass
‚reine‘ Musik als „Sprache der Affekte“ gelten müsse und nur das ihren Status
als ‚schöne Kunst‘ sichern würde – eine damals weithin verbreitete Sichtweise,
980 Payzant, Sixteen Lectures (wie Anm. 12), S. 83.
981 Dahlhaus, Musikästhetik (wie Anm. 840), S. 50. Vgl.: Carpenter, „Form and Idea“ (wie
Anm. 247), S. 411f.; Nowak, „Kant-Repliken“ (wie Anm. 37), S. 37.
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Titel
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Untertitel
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Autor
- Alexander Wilfing
- Verlag
- Hollitzer Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Abmessungen
- 16.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 434
- Schlagwörter
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423