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5.2. Musik, Gefühl, Gedanke – das kognitivistische Emotionskonzept
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Ein inneres Singen, nicht ein inneres Fühlen treibt den musikalisch Talentirten
zur Erfindung eines Tonstücks. Es ist Regel, daß die Composition rein musika-
lisch erdacht wird, und ihr Charakter kein Ergebniß der persönlichen Gefühle
des Componisten ist. Nur ausnahmsweise extemporirt dieser die Melodien als
Ausdruck eines bestimmten, ihn eben erfüllenden Affectes. Der Charakter die-
ses Affects, einmal vom Kunstwerk aufgesogen, interessirt aber sodann nur
mehr als musikalische Bestimmtheit, als Charakter des Stücks, nicht mehr des
Componisten […]. Nicht das thatsächliche Gefühl des Componisten, als eine
blos subjective Affection, ist es, was die gleiche Stimmung in den Hörern
wachruft. Räumt man der Musik solch’ eine zwingende Macht ein, so aner-
kennt man dadurch etwas Objectives in ihr, denn nur dieses zwingt in allem
Schönen. Dies Objective sind hier die musikalischen Bestimmtheiten eines Ton-
stücks. Streng ästhetisch können wir von irgend einem Thema sagen: es klinge
stolz oder trübe, nicht aber: es sei Ausdruck der stolzen oder trüben Gefühle des
Componisten (VMS, S. 106f.).1515
Als besonders geeignetes Fallbeispiel einer derartigen Auffassung kann hier
Jacques Barzun zitiert werden, der musikalische Expressivität als Bedeutung
und Verständnis „in one step“ fasst: „Take a sudden cry. […] The cry is an ex-
pression, and from the looks of the person and your sense of the situation you
know whether it is a cry of joy, or of pain. […] It contains infinitely more than
either emotion, general or particular. It expresses the whole being, that person
at that moment.“ Wenn auch beim kognitiven Argument Hanslicks umgehend
angemerkt werden müsste, dass ‚reine‘ Musik den nötigen Kontext eben nicht
geben kann und somit unklar bleibt, ob ‚pain‘ oder ‚joy‘ musikalisch ausge-
drückt wird, legt Barzun im nächsten Abschnitt klar, dass eine kategorische
Abgrenzung von instinktiver Entäußerung und intendierter Darstellung von
ihm ebenso erkannt wurde: „Music – and every other art – is expressive in
the same sense as a cry or a gesture.“ Sie wäre zwar „more complex than cries,
faces, or gestures, but like a brilliant pantomime its consecutive intention is
immediately perceived and understood“.1516 Die von ihm angeführte Panto-
mime weist dabei schon auf die Redundanz der geläufigen ‚expression theo-
ry‘ hin, denn musikalische Expressivität hängt damit nicht vom unmittelbaren
1515 Hier wäre auch Hanslicks Ablehnung von intentionalen Kunsttheorien anzusiedeln
(Kap.Â
2.1), die bei Davies, „Theory Again“ (wie Anm.Â
1514), S.Â
165f., ebenfalls aufscheint,
für den die Intention des Künstlers zum Ausdruck niemals beiträgt: „in those cases where
the artist’s intention is realised, that fact is irrelevant in that the expressiveness of the
artwork can be apparent to someone who is aware neither of the artist’s feelings, nor of
the artist’s successfully realised intention. Ultimately the expressiveness of art is inde-
pendent of artist’s feelings and of artist’s intentions to express their feelings in their crea-
tions.“
1516 Jacques Barzun, „The Meaning of Meaning in Music: Berlioz Once More“, in MQ 66/1
(1980), S. 1–20, hier S. 11.
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Titel
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Untertitel
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Autor
- Alexander Wilfing
- Verlag
- Hollitzer Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Abmessungen
- 16.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 434
- Schlagwörter
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423