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Forschungsgeschichte | 19
men. Meistens kam dieser Bruch nur dadurch zustande, dass man eben nach dem
Krieg anders über einzelne Kriegsmomente dachte. Wie unscharf und wie politisch
grundiert die Nachkriegsliteratur in ihren Ausführungen über die Kriegsbegeis-
terung von 1914 ist, konnte Oswald Überegger am Beispiel Tiroler Kriegserinne-
rungen sorgfältig herausarbeiten.19 Aus diesem Grund sollte man vorsichtig sein,
wenn man nachkriegszeitliche Kriegsdarstellungen zur Erforschung des Kriegs-
beginns 1914 heranzieht. Die neueren Augustforschungen sind sich dieser Quel-
lenproblematik für gewöhnlich bewusst, weswegen sich in ihren Quellenverzeich-
nissen nur sporadisch Zeugnisse aus der „Zwischenkriegszeit“ finden lassen. Erste
Ansätze dieses Umdenkens lassen sich aber nicht erst seit Anfang der 1990er-Jahre
greifen, sondern reichen mit Blick auf Paul Fussels Studie vereinzelt zurück bis in
die 1970er-Jahre. Bezüglich der Erforschung der Kriegsbegeisterung nimmt auch
Jean-Jacques Beckers jahrzehntealte Studie „Comment les Français sont entrés
dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique, printemps-été 1914“20
(1977) eine wichtige Rolle ein. Retrospektiv wurde sein Buch als Initialzündung
für ein verstärktes Hervorheben von Alltagsmomenten zu Kriegsbeginn 1914 de-
finiert. Becker konnte entlang eines einmaligen Quellenmaterials21 den Nachweis
erbringen, dass in vielen Regionen Südfrankreichs (sprich: in Gebieten fernab der
klassischen militärischen Front) die Stimmung unmittelbar vor und nach dem
(französischen) Kriegsausbruch sehr gedrückt war. Wenngleich Beckers Studie aus
den 1970er Jahren stammt, wurde sie erst Anfang der 1990er Jahre verbreitet auf-
gegriffen.
Ein ähnliches Schicksal erlitten gewissermaßen die Juli- und Augustkapitel in
den sozialgeschichtlichen Studien von Friedhelm Boll, Volker Ullrich und Klaus-
Dieter Schwarz sowie der Aufsatz „Der Erste Weltkrieg und die Arbeiterschaft
im rheinisch-westfälischen Industriegebiet“ von Jürgen Reulecke.22 Ihre Arbeiten
zeichneten zwar entlang ausgewählter deutscher Städte ein differenzierteres Bild
von der Kriegsbegeisterung zu Kriegsbeginn, als man es gemeinhin in den 1950er-
und 1960er-Jahren angenommen hatte. Gleichwohl wurden ihre konzisen August-
thesen nur sporadisch aufgegriffen und akzeptiert. Warum man im deutsch-
sprachigen Raum – fernab dieser Studien – so lange am Bild einer allgemeinen
Kriegsbegeisterung festhielt, hat mehrere und bis zu einem gewissen Grad nach-
19 Überegger (2011) und (2004). In diesem Zusammenhang vgl. auch die Darstellung der Kriegsbe-
geisterung in fünf ausgewählten österreichischen Kriegsmemoiren von: Bargehr (2012), 25–33.
20 Becker (1977).
21 Er griff auf minutiös erstellte Stimmungsberichte zurück, die von der französischen Regierung in
Auftrag gegeben wurden und von Schuldirektoren angefertigt wurden.
22 Boll (1981); Ullrich (1976); Reulecke (1974); Schwarz (1971).
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453