Page - 56 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen56
aus deutschnationale Züge193 hatte, beanspruchte seit 1900 sukzessive den 3. (und
letzten) Wahlkörper für sich.194 Aufgrund des Zensus- und Kurienwahlrechts darf
aus der Zusammensetzung des Gemeinderats aber nicht eins zu eins auf die Ge-
samtbevölkerung geschlossen werden. 1913 waren beispielsweise weniger als
17.000 Menschen aufgrund ihrer Steuerleistung wahlfähig.195 Obwohl man heftig
über eine Reform des Wahlrechts debattierte, erfolgte eine maßgebliche Demokra-
tisierung des Wahlrechts erst nach dem Ersten Weltkrieg. Wenngleich die Mehr-
heit der volljährigen Grazer und Grazerinnen aufgrund ihres geringen Verdiensts
vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, bedeutet das noch lange nicht, dass alle
Wahlberechtigten zur Urne schritten. 1913 wurden bei der Gemeinderatswahl le-
diglich 3.676 Stimmen (von 16.948 möglichen Stimmen) abgegeben.196 Geringe
Wahlbeteiligungen waren keine Seltenheit. Fast alle vorkriegszeitlichen Grazer Ge-
meinderatswahlen verzeichneten eine sehr geringe Wahlbeteiligung. In der Regel
lag sie bei rund 20 Prozent.197 Nur einige Male lag sie über 40 Prozent. Diese Zah-
len verdeutlichen (angesichts der Tatsache, dass weite Teile der Bevölkerung vom
Wahlrecht ausgeschlossen waren), wie marginal der Gemeinderat die Bevölkerung
widerspiegelte. Der kanadische Wirtschafts- und Sozialhistoriker William Hub-
bard arbeitete in den 1980er Jahren einleuchtend heraus, dass der Grazer Gemein-
derat letztendlich nur 2 bis 4 Prozent der gesamten Grazer Stadtbevölkerung ver-
trat.198 Dominiert wurde der Gemeinderat von den Deutschnationalen und der
Sozialdemokratie. Das klerikal-konservative Milieu war zwar in Graz durch Zei-
zu Graz als „deutsches Bollwerk“ und dessen „deutschnationaler Ära“ (1885–1919): Zettelbauer
(2012); Moll (2007a), 81–89; Brunner (2003), 231–248; Uhl (1999); Marauschek (1998).
193 In seinem Geleitwort zur großen Grazer Stadtfestschrift (1928) schrieb der sozialdemokratische
Grazer Bürgermeister Vinzenz Muchitsch beispielsweise Folgendes: „Das Buch soll den Freun-
den unserer Stadt ein möglichst übersichtliches und doch getreues, ungeschminktes Bild unseres
heutigen städtischen Lebens und der Verwaltungstätigkeit der Gemeinde in den letzten Dezen-
nien geben, es soll der mit Naturschönheiten so reich gesegneten Stadt neue Freunde gewinnen
und es soll endlich Kunde geben vom deutschen Wesen dieser Stadt, die sich ihrer Sendung als
der am weitesten nach Südosten vorgeschobenen deutschen Groß- und nunmehrigen Grenzstadt
immer bewußt bleiben wird.“ Aus: Die Stadt Graz – ihre kulturelle, bauliche, soziale und wirt-
schaftliche Entwicklung in den letzten sechzig Jahren nebst kurzen geschichtlichen Rückblicken.
Herausgegeben aus Anlaß der Achthundertjahrfeier 1128–1928 (1928), VIII.
194 Marauschek (1998), 39–44.
195 Berechnet aus dem aufbereiteten Material von: Hubbard (1984), 156. Zur Entwicklung des Frau-
enwahlrechts auf der steirischen Gemeinderatsebene vgl. luzide Schmidlechner/Ziegerhofer/
Sohn-Kronthaler/Sonnleitner/Holzer (2017), 88 f.
196 Berechnet aus dem aufbereiteten Material von: Hubbard (1984), 156.
197 Hubbard (1984), 159.
198 Ebd.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453