Page - 61 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Vier Leitpanoramen | 61
Nirgendwo schien der Begriff „Heimatfront“ auf. Trotz der damals weitgehend
dichotomisch gedachten Trennung zwischen der Front und der „Heimat“ bestan-
den realiter mannigfaltige Verbindungen. Unter diesen Verbindungen stechen die
Feldpost, die „Liebesgaben“230, die Zeitungen231, die Etappe, das Kino, der Frontur-
laub, die zurückkommenden Krankenschwestern, die Kriegsgefangenen sowie der
sogenannte „Schlachtfeldtourismus“ hervor. Heutzutage weiß man, dass jede die-
ser Verbindungen das Verhältnis zwischen der Front und der „Heimatfront“ ver-
bessern oder verschlechtern konnte. Ein Feldpostbrief oder ein Feldurlaub konnte
beispielsweise situationsbezogen dazu führen, dass sich das „Band“ zwischen der
Front und der „Heimat“ festigte oder dass sich die „beiden“ Sphären entfremdeten.
Sie waren demnach für die sozialen Konstellationen innerhalb eines Staats von
enormer Bedeutung. Die „Heimatfront“ war im Endeffekt ebenso kriegsstützend,
kriegsnotwendig und kriegsentscheidend wie das Kämpfen an der Front.232 Ihr
oblag die Produktion/Wiederherstellung von ideologischem, menschlichem und
technischem Kriegsmaterial. Am Ende wurde alles, was es an der „Heimatfront“
gab, als Kriegswerkzeug gehandhabt (Geräte, Geschosse, Getreide, Gemüse, Geld,
Genealogie, Geschlecht, Gedrucktes, Glaube, Gerüchte usw.). Es war jedoch nicht
immer von Anfang an klar war, zu welchem Zweck und gegen wen das jeweilige
Kriegswerkzeug gerade eingesetzt wurde. Zeitungen beispielsweise waren – wie
das Geschlecht – seit jeher funktionstüchtige Werkzeuge.233 Im Ersten Weltkrieg
war das nicht anders, zumal die Zeitungen Politik nach ihren eigenen (Ordnungs-)
Vorstellungen betrieben und sie die Art und Weise, wie sich Männer und Frauen
an der „Heimatfront“ zu verhalten haben, als kriegswichtig erachteten. So wurde
vieles in der „Heimat“ zur umkämpften „Waffe“, die nicht zuletzt durch Zeitungen,
Vereine, Milieus, Konfessionen oder andere Akteure zum Einsatz kam. Nicht im-
mer richteten sich diese „Waffen“ gegen den äußeren Feind. Wie noch zu zeigen
sein wird, zogen die Grazer Zeitungen mit unterschiedlichen Forderungen an die
230 Vgl. den Lexikonartikel „Liebesgaben“ von Klaus Latzel in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014),
679. Es wurden nicht nur Pakete an die Front geschickt. In Deutschland sandten während des
„Steckrübenwinters“ (1916/17) viele deutsche Soldaten immer öfter Lebensmittelpakete an die
„Heimatfront“, vgl. das Vademecum von: Krumeich (2014), 88 f., 90–92.
231 An der Front gab es nicht nur die Frontzeitungen/Kriegszeitungen, sondern es wurden dort auch
die regulären Tageszeitungen gelesen. An der Front wusste man daher „genau“, was sich „so“ in
der „Heimat“ abspielte. Viele Redaktionen warben dafür, dass Frauen und Angehörige von Sol-
daten die Zeitung via (portofreier) Feldpost ins „Feld“ (=
„Heimatfront“, Etappe, Front) schicken
sollten, vgl. etwa eine normierte (sozialdemokratische) Werbung: Schickt den „Arbeiterwille“ ins
Feld!, in: Arbeiterwille, 23.2.1915, 3.
232 Vgl. dazu die Studien von Susan Grayzel und Christa Hämmerle.
233 Zum Geschlecht als „Waffe“ am Beispiel des deutschnationalen Milieus vgl. Zettelbauer (2005).
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453