Page - 70 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz70
den (politischen) Tageszeitungen in Umlauf gebrachten Wahlkampfthemen waren
parteipolitisch abgesteckt. Einen Personenwahlkampf, wie man ihn heutzutage
kennt, gab es nicht. Abseits der konkreten Auseinandersetzungen über das Grazer
Stadtbudget und die Steuerpolitik oszillierten die Wahlkampfthemen zwischen
den Verfehlungen des jeweiligen politischen Gegners im cisleithanischen Reichs-
rat, im steirischen Landtag und im Grazer Gemeinderat. Mitten im Wahlkampf
brach der (Erste) Balkankrieg aus. Die Möglichkeit, dass ein Krieg am „Balkan“
ausbrechen könnte, bahnte sich bereits Tage zuvor an. Die Tageszeitungen reagier-
ten auf diese weitere „Balkankrise“ mit einer ausführlichen Berichterstattung, in
der außenpolitische und innenpolitische Forderungen der einzelnen Parteiblätter
teilweise verschwammen. Dabei zeigte sich, dass die ereignisbezogenen Artikel be-
züglich des Kriegsverlaufs von 1912/13 die steirischen Wahrnehmungen vom
„Balkan“ und die Vorstellung vom „Krieg“ im Allgemeinen nachhaltig prägten.
Die thematische Bandbreite der wenigen redaktionseigenen Zeitungsberichte
sowie die vielen Nachrichten diverser Depeschen- und Korrespondenzbureaus
forcierten die seit Jahren bestehende Vorstellung, dass der „Balkan“ ein „unzivili-
siertes“ Gebiet sei, an das das Kronland Steiermark angrenze und das einem
„Pulverfaß“5 gleiche. Die Kriegsgräuel-Nachrichten führten der Grazer Bevölke-
rung vor Auge, was ein am Land, im Wasser und in der Luft geführter Mehr-
staatenkrieg bedeutet. Zwar berichteten die Grazer Zeitungen nur wenig von
Schützengräben, sie waren aber dennoch voll von Berichten über Tote, Leid, Ver-
treibungen, Flucht, Umsiedelungen, Freiwilligenmeldungen, Paramilitärs, Epide-
mien, Gerüchte, Attentate, Entführungen, Hausarreste und so weiter.6 Andere Zei-
tungsberichte wiederum legten offen, wie sehr der „Balkan“ von ausländischen
Staats- und Wirtschaftsinteressen strukturiert und kolonialisiert wurde. Wie diese
Grazer Berichte in puncto Kriegsgräuel und Imperialismus nun zustande kamen,
auf welche Nachrichtenkanäle sie sich stützten, wie sehr sie einer unterschiedlich
motivierten Meinungslenkung folgten, steht auf einem anderen Blatt.7 Diese Ar-
tikel prägten aber die 1914 zum Ausdruck kommenden Vorstellungen hinsichtlich
eines (immer möglicher werdenden) Kriegs mit. Das heißt zum einen, dass sich
die Zeitungen darüber im Klaren waren, dass Kriege massives menschliches Leid
hervorriefen. Zum anderen verstärkten die Artikel bezüglich der Balkankriege
aber auch die Ansicht, dass Kriege eine gewisse Veränderung zum „Positiven“ ein-
5 Vgl. z. B. Die Italiener vor Saloniki, in: Grazer Tagblatt, 13.3.1912 (Abendausgabe), 1: „Damit
würfe Italien die Brandfackel in das Pulverfaß des Balkans.“
6 Vgl. z. B. Kriegsgreuel, in: Arbeiterwille, 24.10.1912, 9.
7 Einen ersten überregionalen Überblick über die Kriegsberichterstattung und die „Aufarbeitung“
der Kriegsgräuel bietet: Boeckh (1996), 365–376.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453