Page - 85 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Grazer Gemeinderatswahlkampf | 85
Gegner, die bei den bürgerlichen Redaktionen judenfeindliche Grundhaltungen
beinhaltete. Antisemitische Lebensentwürfe konstituierten seit jeher das deutsch-
nationale und klerikal-konservative Milieu. Ende Juni las man beispielsweise im
katholischen Volksblatt: „Deshalb gilt für uns [Christlichsoziale] heute nicht min-
der [...
als] vor 20 Jahren die Pflicht, fest und treu zur Fahne des Antisemitismus zu
stehen.“72 Die Grazer Sozialdemokratie, die durchaus deutschnationale Züge auf-
wies, war weniger antisemitisch, was mitunter damit zusammenhing, dass einige
Mitarbeiter des Arbeiterwillens jüdischen Glaubens waren. In den bürgerlichen
Zeitungen war hingegen der Judenhass und die Judenfeindlichkeit virulent. Vor der
Auflösung des Gemeinderats warnte zum Beispiel das Volksblatt vor einer „rote[n]
Gewaltherrschaft“ des „jüdische[n] Obergenosse[n] Dr. [Michael] Schacherl im
Rathause“.73 Diese „Gewaltherrschaft“ würde jener des ungarischen Ministerpräsi-
denten István Tisza gleichen. Die Intensität der gegenseitigen Presseattacken nahm
von Tag zu Tag zu. Die Kleine Zeitung, das steirische „Mengenblatt“, entzog sich
einer aggressiven Wahlkampfrhetorik, wenngleich ihr Nahverhältnis zum Volks-
blatt klar ersichtlich war. Für die deutschnationale Tagespost galt es, „in Graz wie-
der deutsches Wesen und deutsche Sitte zu Ehren zu bringen“.74 Auch das radikal
deutschnationale Tagblatt erhoffte sich eine „Schaffung einer deutschfreiheitlichen
bürgerlichen Mehrheit, in der wieder alle Gruppen der deutschbewußten Bevölke-
rung von Graz entsprechend vertreten sind.“75 Das katholische Volksblatt, das
Sprachrohr des Deutsch-freiheitlichen Wirtschaftsverbandes, trat für eine starke
Beamtenschaft und ein starkes Gewerbe bzw. generell für einen starken Mittelstand
ein.76 Keine der beiden bürgerlichen Seiten, weder die deutschnationale noch die
klerikal-konservative Seite, hielt eine größere Wahlkampfveranstaltung ab. Konträr
dazu verhielt es sich mit der Sozialdemokratie. Sie hielt am 22. Juni sowie am
72 Was ist christlichsozial?, in: Grazer Volksblatt, 21.6.1914, 7. Das Volksblatt druckte hier eine
Rede des christlichsozialen Wiener Gemeinderats Rudolf Solterer.
73 Die Grazer Gemeindekrise, in: Grazer Volksblatt, 15.6.1914 (Abendausgabe), 1. Zum biogra-
fischen Hintergrund: Michael Schacherl (1869–1939), Arzt, Journalist, Politiker, arbeitete
kurzzeitig als Sekretär von Victor Adler. Seine Arztpraxis leitete er bis 1905. Seit 1899 war er
Chefredakteur des Arbeiterwillens, seit 1903 saß er im Grazer Gemeinderat, seit 1904 auch im
Steiermärkischen Landtag. Von 1911 bis 1918 war er (cisleithanischer) Reichsratsabgeordneter.
In der Nachkriegszeit war er Mitglied der provisorischen sowie der konstituierenden National-
versammlung. Danach legte er seine Mandate nieder und arbeitete wieder als Arzt. Zwischen
1921 und 1934 war er 2. Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung (Wien). Vgl. Fischer (1994) sowie
den Lexikonartikel „Schacherl“ in: Reismann/Mittermüller (2003), 424.
74 Die Auflösung des Gemeinderates, in: Tagespost, 24.6.1914 (Abendausgabe), 1.
75 Nach der Auflösung, in: Grazer Tagblatt, 25.6.1914 (Abendausgabe), 1.
76 Die Auflösung des Gemeinderates, in: Grazer Volksblatt, 24.6.1914 (Abendausgabe), 1.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453