Page - 97 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Intensive Julipolemik | 97
„Durch die Willkür einer verfassungsbrüchigen Regierung wird den Völkern Oester-
reichs jede Gelegenheit [... genommen], durch ihre gesetzlichen Vertreter in einer so
überaus krisenreichen Zeit an der Lenkung der Geschicke dieses Staates teilzunehmen.
Daraus ergibt sich für die diesseitige Reichshälfte der schmachvolle Zustand, daß das
gesamte parlamentarische Leben der Monarchie im ungarischen Reichstage pulsiert.
Während in Budapest die großen Fragen der Zeit verhandelt werden, muß man in Wien
sich in allen Sprachen ausschweigen, denn dem österreichischen Ministerpräsidenten
paßt es nicht in seinem politischen Kram, sich durch die Volksboten in seiner § 14-Ge-
mütlichkeit stören zu lassen. […] Man läßt den Grafen Stürgkh in aller Seelenruhe mit
kaiserlichen Verordnungen weiterwirtschaften und freut sich trotz der unheilverkün-
denden Wolken am politischen Horizonte der ungestörten Sommerruhe, anstatt die
Regierung zu zwingen, diesem skandalösen, parlamentslosen Zustande schleunigst ein
Ende zu machen.“135
Die als nicht aufschiebbar empfundene Klärung der virulenten Nationsfragen (Slo-
wenenfrage, Böhmenfrage, Polenfrage usw.) verfolgten auch die radikal deutsch-
nationalen Blätter der „Untersteiermark“ aggressiv, was in eine medial erzeugte
„Atmosphäre latenten Bürgerkriegs“ kulminierte.136 Die deutschnationale Tages-
post hob sich in ihren Attacken gegen das „Slowenische“ nicht spürbar vom ra-
dikal deutschnationalen Tagblatt oder vom alldeutschen Grazer Wochenblatt ab.
Ihre Kritik an der Regierung fiel dagegen weniger harsch aus, zumal man von ihr
lediglich ein härteres Vorgehen des Staats gegenüber Serbien forderte. Die tradi-
tionell loyale Haltung des klerikal-konservativen Volksblatts gegenüber der Dy-
nastie und der römisch-katholischen Kirche kannte in diesen Tagen keine Ein-
schränkung. Genauso wie die anderen bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften
forderte aber auch das Blatt des klerikal-konservativen Milieus der Steiermark ein
härteres Vorgehen des Staats gegenüber Serbien. Bezüglich der Slowenenfrage griff
das Volksblatt zu den gleichen rhetorischen Diffamierungen wie das Tagblatt. Im
Grunde genommen unterschieden sich die beiden Seiten nur darin, dass die kleri-
kal-konservative Presse in vielen, aber nicht in allen Fällen die verhafteten slowe-
nischen Priester vor deutschnationalen Gesamtaburteilungen verteidigte.137 Letzt-
endlich befand sich die cisleithanische Reichshälfte in einer Situation, in welcher
135 Skandalöse Zustände, in: Grazer Wochenblatt, 26.7.1914, 1. Diese Ausgabe vom 26. Juli erhielt
eine zweite Ausgabe, wobei der Artikel „Skandalöse Zustände“ zur Gänze und der Artikel „Den
Auchdeutschen Volksverführern ins Stammbuch“ teilweise (nämlich im Hinblick auf die Stellen,
die Franz Ferdinand kritisieren) zensiert wurde.
136 Moll (2007a), 177.
137 Siehe das Kapitel: Kirchen und Friedhöfe.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453