Page - 98 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz98
trotz außenpolitischer Krise die Legislative ausgeschaltet war138 und die Exekutive
nur marginal den Gang an die Öffentlichkeit praktizierte. Obendrein reagierte man
auf die Tatsache, dass der Kaiser nach dem Attentat weiterhin in Bad Ischl blieb
und nicht nach Wien kam, mit Unverständnis.139 Außerdem hatte jede Zeitung
ihre eigene Vorstellung, wie man mit dem Attentat und dessen Folgen umzugehen
habe, aber keine wusste über die hinter den Kulissen stattfindende Julikrise Be-
scheid. Alle Redaktionen missbilligten daher an der verbliebenen „Politelite“ – der
cisleithanische Reichsrat sowie der Steiermärkische Landtag140 waren seit Monaten
vertagt, der Grazer Gemeinderat aufgelöst und viele Politiker waren auf Sommer-
frische – dass sie in einer Situation, in welcher die Legislative auf mehreren Ebenen
ausgeschaltet war, keine Auskünfte über etwaige Staatsinteressen und -aktionen
kundgab. Die bürgerlichen Zeitungsredaktionen in Graz gingen – wie (kurzfristig)
die deutsche und französische Presselandschaft auch – von einem ausschließlich
österreichisch-serbischen Konflikt aus. Die Möglichkeit eines Weltkriegs stand für
die bürgerliche Presse bis Ende Juli nie zur Disposition, zumal sie das Attentat
auf das Thronfolgerpaar als eine folgenschwere, aber bilaterale Episode der „Bal-
kanwirren“ erachtete. Daran änderten auch die wenigen Artikel, die Anfang Juli
einen „Zusammenhang des Attentates mit Hintermännern in Serbien und Ruß-
land“ herstellten, nichts.141 Für die bürgerlichen Redaktionen blieb „Sarajevo“ bis
zum Ultimatum an Serbien (23. Juli) ein österreichisch-serbischer Konflikt, der
wie der steirische Nationalitätenkonflikt schnell und entschieden gelöst werden
müsse. Russland – geschweige denn Italien, Rumänien und Bulgarien – schenkten
die bürgerlichen Zeitungsredaktionen bis zum Ultimatum an Serbien nur gering-
fügige Beachtung.142 Konträr dazu verhielt es sich mit dem Arbeiterwillen, zumal
138 Der (cisleithanische) Reichsrat war seit 16. März 1914 sistiert. Nach seiner Schließung „am
25. Juli 1914 wurden umgehend alle verfügbaren verfassungsmäßigen Not- und Ausnahmein-
strumentarien eingesetzt, um zunächst die erforderlichen – z. T. bereits sorgsam vorbereiteten
– kriegsbedingten Maßnahmen im Verordnungsweg in Geltung zu setzen.“ 1917 trat er wieder
zusammen. Vgl. Hasiba (1985), 148 f., 153.
139 Franz Joseph I. wollte allerdings mit diesem Schritt „Normalität“ suggerieren.
140 Der Steiermärkische Landtag war seit 3. März 1914 vertagt und wurde im Juli geschlossen. Be-
reits in den Jahren von 1910 bis 1913 war er vertagt. Wiedereröffnet wurde er 1917. Vgl. Marko-
Stöckl (2000), 1712.
141 Zusammenhang des Attentates mit Hintermännern in Serbien und Rußland, in: Grazer Tagblatt,
1.7.1914, 1. Ferner der Artikel: Zusammenhang des Attentats mit Belgrad und Petersburg, in:
Grazer Volksblatt, 1.7.1914, 1.
142 Zarismus und Fortschritt, in: Tagespost, 10.7.1914, 1; Poincarés Rußlandfahrt, in: Grazer Tag-
blatt, 19.7.1914, 1.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453