Page - 106 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 106 -
Text of the Page - 106 -
| Sarajevoer Attentat und
Graz106
aus dem Leim geraten.“174 Der hier zitierte Artikel fuhr mit folgendem Satement
fort: „Die Verfassungsbrüche sind zur Tagesordnung geworden und die höchsten
Gerichtsstellen, die dazu extra geschaffen sind, um über die richtige Anwendung
der Gesetze zu wachen, geben den Rechtsbrüchen die Begründung.“Nach dem
Ultimatum an Serbien (23. Juli) reduzierte der Arbeiterwille seine harschen At-
tacken gegen die cisleithanische Regierung spürbar. Sein Unverständnis, dass der
Reichsrat nicht einberufen wurde, blieb davon aber unberührt. Obendrein erhöhte
sich sein Unmut seit dem 4. August, als man an diesem Tag in Deutschland die
Kriegskredite einstimmig bewilligte. Dass in der gleichen „Sitzung auch ein ganzes
Bündel von Vorlagen angenommen [...
wurde], die dem Bundesrat – und dies hieß
für alle praktischen Zwecke: der Exekutive – eine umfassende Ermächtigung zu
Verordnungen in wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Angelegen-
heiten einräumten, welche die Gesetzgebungskompetenzen des Parlaments fürs
erste weitgehend entbehrlich machte“175, thematisierte die Presse nicht. Der sozial-
demokratische Blick über die Staatsgrenze hin zur „Schwester- und Bruderpartei“
(SPD) – in der Hoffnung auf Rat und Orientierung – illustriert unverkennbar, wie
sehr die österreichische Sozialdemokratie in einer Krise steckte.176 Dabei präsen-
tiert sich in der Rückschau das massive Aufgreifen des „4. Augusts“ durch den
Arbeiterwillen weitläufig als eine anlassgebundene Reverenz vor dem deutschen
Parlamentarismus, die als scharfe Kritik an der Nichteinberufung des cisleithani-
schen Reichsrats fungierte:
„Erinnern wir uns, welch gewaltigen Eindruck die Kriegssitzung des deutschen Reichs-
tages auch über die schwarz-weißen Pfähle hinaus machte. Im französischen Senat, im
englischen Unterhaus, in der serbischen Skupschtina und in der russischen Duma, über-
all kam es zu einer Willensmeinung wenigstens großer Teile der Bevölkerung, zu wirt-
schaftlicher und finanzieller Mobilmachung. Wenn man den Weltbrand als unvermeid-
liche Naturnotwendigkeit hinstellt (dem wir uns mit guten Gründen nicht anschließen
können), dann sind die Fehler, das heißt, die Unterlassungen der Zivilverwaltung noch
viel größere.“177
174 Kaiser Wilhelm in Konopischt, in: Arbeiterwille, 13.6.1914, 1.
175 Mommsen (1995), 570.
176 Allgemeines zur Krise der (Wiener) Sozialdemokratie zu Kriegsbeginn in: Ardelt (1994); Grandner
(1992), 57 f.; Neck (1964), VII, des Weiteren: Hanisch (2011), 80–86; Kronenbitter (2003a), 479.
177 Parlamentarische Vorsorge, in: Arbeiterwille, 25.10.1914, 1.
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453