Page - 121 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Verregnete Grazer Straßen im Juli | 121
meiner Sicht für das „nervöse Zeitalter“262 stehenden Gewaltverbrechen, Betrugs-
fälle, Diebstähle, Suizide, Wilderei-Vorfälle sowie Auto- und Fuhrwerksunfälle an
Bedeutung. Es mag sein, dass dieser Stadtboulevard über „Verrohung“ und „Ver-
einsamung“ nicht vollständig zum Erliegen kam, aber das Attentat, die Außen-
politik und die lokalen „Hoch-Serbien!“-Rufer waren meiner Einschätzung nach
gesprächswürdiger. Auch die in Graz zu dieser Zeit laufenden Lohnbewegungen
einiger Gewerbesparten (z. B. die der Maler263) sowie die kleinräumigen Streiks
einiger Berufsstände (z. B. die der Pflasterergehilfen264) schafften es nur selten in
die Zeitungen. Den Themen aus dem Ausland, wie beispielsweise der Fall „Ma-
dame Caillaux“265, erging es gleichermaßen. Sie alle verloren schnell an Diskussi-
onsrelevanz. Nun sprach man offen und massiv über den „richtigen“ Umgang mit
Serbien und über den „richtigen“ Fortbestand der Monarchie. Die Nachricht, dass
der Thronfolger und seine Frau einem Attentat zum Opfer fielen, stellte hierbei
aber nicht den Anfang dar. Bereits seit den Nachmittagsstunden des 28. Juni 1914
kursierte in Graz – im Übrigen genauso wie in Freiburg im Breisgau266 – das Ge-
rücht über einen in Sarajevo erfolgten Anschlag auf das Thronfolgerpaar. Diesem
Gerücht schenkte man dem Tagblatt, das am umfangreichsten die Aufnahme des
Attentats in Graz beschrieb, zufolge aber „wenig Glauben“.267 Stattdessen vermutete
man kurzzeitig, dass es sich hierbei um ein Attentat auf den albanischen König und
seine Frau handelte. Immerhin herrschte dort gerade Bürgerkrieg.
262 Zum „nervösen Zeitalter“ siehe das Kapitel: Vier Leitpanoramen.
263 Die Gehilfen und Hilfsarbeiter im Malergewerbe forderten von den Meistern mehr Lohn. Vgl.
die Zeitungen am 21. und 22. Juli 1914.
264 Der kurzfristige Streik der Pflasterergehilfen endete am 24. Juli. Vgl. die Zeitungen rund um den
24. Juli 1914.
265 Am 16.
März 1914 verübte die französische Sozialistin Henriette Caillaux ein Attentat auf Gaston
Calmette, den Chefredakteur des konservativen Le Figaro (Paris). Henriette Caillaux war u. a.
die zweite Ehefrau des ehemaligen französischen Premierministers (1911–1912) und Finanzmi-
nisters Joseph Caillaux, der wiederum ein entschiedener Gegner von Gaston Calmette war. Der
anschließende Prozess gegen Henriette Caillaux wurde auch in der Grazer Presse verfolgt. Vor
allem die bürgerliche Presse beschäftigte sich vielfach mit dem Attentat, zumal es von einer sozia-
listischen Frau verübt wurde. Der Arbeiterwille widmete sich deutlich weniger dieser Geschichte.
Er beschäftigte sich primär mit dem Prozess gegen jenen Gesellen, der den „Arbeiterführer“
Michael Kosel töten wollte, siehe das Kapitel: Grazer Gemeinderatswahlkampf. Am 28. Juli 1914
wurde Henriette Caillaux freigesprochen. Das Urteil spaltete die französische Gesellschaft. Am
29. Juli trat Joseph Caillaux von seinem Amt als Finanzminister zurück. Allgemeines zum Fall
„Madame Caillaux“ in: Blom (22011), 453 f.
266 Geinitz (1998), 50.
267 Der Eindruck der Schreckensbotschaft in Graz, in: Grazer Tagblatt, 29.6.1914 (2. Sonderaus-
gabe), 2.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453