Page - 123 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Zur Trauerstimmung | 123
man ihrer Forderung nicht Folge leistete, zogen sie wieder ab. Nur wenige Tage
später, am 1.
Juli abends, wiederholte sich der Vorfall mehr oder weniger. Nun war
es aber nur mehr eine rund zehn Personen starke Gruppe, die vom nahegelegenen
Wald aus das gleiche mit lauten Rufen forderte. Auch ihren Forderungen schenkte
die Anstaltsleitung kein Gehör. Über diese beiden antiserbischen Demonstratio-
nen berichteten auch andere Zeitungen und Zeitschriften der Habsburgermonar-
chie. Sie alle distanzierten sich von diesen Aktionen vor der Lungenheilstätte. Pro-
minentes Beispiel hierfür ist sicherlich Karl Kraus, der sich in seiner Fackel (Wien)
über die Demonstrationen echauffierte.275 Allerdings fällt aus naheliegenden
Gründen bei diesen auswärtigen Berichterstattungen auf, dass sie untereinander
durchaus divergieren konnten. Beispielsweise kolportierten mehrere Nicht-Grazer
Zeitungen, dass sich Hunderte Menschen an den Demonstrationen beteiligt hät-
ten.276 Diese Zahlen widersprechen sowohl den Schätzungen der Grazer Zeitungen
als auch den Angaben der Behörden.277 Auf die hier nur angedeutete, weil altbe-
kannte Problematik hinter zeitgenössischen Zahlenangaben werde ich im Laufe
der Arbeit mehrmals eingehen. Vorläufig sei nur festgehalten, dass die Zahlen-
problematik so mancher Aussage einen Riegel vorschob. Schließlich betrieben die
damaligen (politischen) Tageszeitungen mit ihren Berichten und Analysen viel-
fach, aber nicht ausschließlich Parteipolitik. Der Böhmische-Volksbote, das Organ
der Sozialdemokratie Südböhmens, schrieb beispielsweise, dass „die Klerikalen“278
hinter den Demonstrationen vor der Lungenheilstätte stecken würden. Andere
Zeitungen hingegen verwehrten sich diesbezüglich einer Aussage.279 Die Grazer
Quellen äußern sich in dieser Hinsicht ebenfalls unklar:
„Ein Teil von den Demonstranten schrie: Nieder mit Serbien! Nieder mit den Roten!
Dann schrien andere: Wir sind Sozialdemokraten, wir sind überzeugte Arbeiter! Wir
[der Arbeiterwille] meinen, wenn ein organisierter Arbeiter dabei war, dann möge er
seiner Organisation für den Stiefel, den er gemacht hat, Abbitte leisten und in Hinkunft
fleißig die Ziele der Sozialdemokratie studieren, statt hinter dem Bierkrug den Sozi spie-
len und hernach sich um eine Lacke Bier von jedem Esel lenken zu lassen. Die Organi-
sation verurteilt aus Menschlichkeitsgründen diese beiden Demonstrationen, denn es
275 Die Lage der Deutschen in Europa, in: Die Fackel, 10.7.1914, 6. Vgl. auch: Sauermann (2000), 23.
276 Vgl. exemplarisch die Wiener Tageszeitung „Die Neue Zeitung. Illustriertes unabhängiges Tag-
blatt“ und ihren Artikel: Demonstrationen in Graz, in: Die Neue Zeitung, 30.6.1914, 5.
277 Moll (2007a), 174 f.
278 Vgl. z. B. Ueberfall auf eine Heilanstalt, in: Böhmerwald-Volksbote, 11.7.1914, 6.
279 Vgl. z. B. Eine Gemeinheit. Antiserbische Kundgebung gegen Kranke!, in: Arbeiter-Zeitung,
30.6.1914, 4.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453