Page - 140 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof140
in unmittelbare Nähe. Die Nachricht des Abends verbreitete sich schnell im ge-
samten Stadtgebiet und darüber hinaus.21 Daraufhin zogen immer mehr und mehr
Menschen in die Innenstadt, genauer gesagt zum Hauptplatz. Dem radikal deutsch-
nationalen Tagblatt zufolge bildete sich dort „eine nach Tausenden zählende Men-
schenmenge, Männer, Frauen, Jünglinge und Mädchen“.22 Auch die anderen bür-
gerlichen Zeitungen berichteten, dass sich die größer werdende Menge aus
Männern wie Frauen unterschiedlichen Alters zusammensetzte. Aus Sicht des Ar-
beiterwillens, der die Vorgänge in der Innenstadt lediglich mit einer Randnotiz
kommentierte, wurde am Hauptplatz eine „nur wenigen verständliche Ansprache
gehalten“.23 Diese Notiz ist zweideutig. Einerseits könnte sie bedeuten, dass die
Rede rein akustisch kaum verstanden wurde. Man kann diesen Satz aber auch so
auslegen, dass die Menschen – in den Augen des Arbeiterwillens – die politische
Tragweite der Ansprache nicht erkannt hätten. Worüber der Redner sprach, ver-
schwiegen die Grazer Zeitungen. Vermutlich forderte jemand zur freiwilligen
Kriegsdienstleistung auf. Unabhängig davon, ob dem nun so war oder nicht, so
lässt sich doch annehmen, dass es sich bei der Ansprache am Hauptplatz um kei-
nen pazifistischen Aufruf handelte. Demgemäß muss es eine Rede gewesen sein,
deren Inhalt vom Arbeiterwillen missbilligt wurde. Schließlich lehnte der Arbei-
terwille jedwede kriegerische Auseinandersetzung mit Serbien (den „Serbien-
krieg“) bis zum 31.
Juli strikt ab. Aus diesem Grund neige ich dazu, dass der Arbei-
terwille letztendlich mit seinem Verweis auf die „nur wenigen verständliche
Ansprache“ eine indirekte/verklausulierte Kritik an jenen Menschen übte, die ei-
nen Krieg mit Serbien auf die leichte Schulter nahmen. Im Unterschied zu den
bürgerlichen Zeitungen nahm der Arbeiterwille auch keine Größenschätzung der
Menschenmenge am Hauptplatz vor. Zieht man die wenigen Tagesbeschreibungen
zusammen, zeigten sich die Menschen von der neuen Nachricht erleichtert. Im
Anschluss daran spekulierten sie über die Zukunft. Rückblickend teilte sich nach
diesen Diskussionen die Menschenmenge mehr oder minder in drei Gruppen. Die
überwiegende Mehrheit der Leute ging nach Hause (= 1. Gruppe). Die Presse ließ
ihnen keine nähere Betrachtung zukommen. Andere gingen hingegen in ein Gast-
oder Kaffeehaus (= 2. Gruppe). Und wieder andere formierten sich zu einem „pa-
triotischen“ Straßenumzug (= 3. Gruppe). Die letzten beiden Gruppen erhielten
21 Gemeint sind hier die Grazer „Vororte“, die damals eigene Gemeindevorsteher bzw. Bürgermeis-
ter hatten. Beispielsweise war Josef Posch Bürgermeister von Wetzelsdorf, vgl. dazu: Wetzelsdorf.
(40jähriges Feuerwehrjubiläum.), in: Grazer Vorortezeitung, 28.6.1914, 3; Wetzelsdorf. (Bezirks-
feuerwehrtag.), in: Grazer Vorortezeitung, 11.10.1914, 2.
22 Die Aufnahme der Kriegsnachricht in der Stadt, in: Grazer Tagblatt, 26.7.1914, 32.
23 In Erwartung der Entscheidung, in: Arbeiterwille, 26.7.1914, 5.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453