Page - 156 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof156
sen der Mobilisierungsplakate98 im Regen führte die „dichte[n] Gruppen“99 zeit-
gleich zusammen und erneut traten vorangegangene, sich gegenseitig oder selbst
zugeschriebene Alteritäten bezüglich Milieu, Geschlecht und Herkunft einstweilig
in den Hintergrund. Das wirft die Frage auf, wer damals überhaupt lesen und se-
hen konnte. Die Frage, wie viele Menschen zur damaligen Zeit lesen (und schrei-
ben) konnten, kann mit Rückgriff auf zeitgenössische Erhebungen vorsichtig be-
antwortet werden. Die Frage nach der Anzahl der Blinden und Gehörlosen dagegen
nicht.100 Lässt man die zeitgenössischen Statistiken hinsichtlich der Blinden, Seh-
schwachen und Gehörlosen außen vor – denn diese sind wahrlich problematisch
– so liegen halbwegs vernünftige Abwägungen bezüglich der damaligen Analpha-
betenrate vor: 1910 konnten 7,92 Prozent der Steirer und Steirerinnen über dem
10. Lebensjahr weder schreiben noch rechnen.101 Hierbei handelt es sich jedoch
um den steirischen Landesdurchschnitt. In der Stadt Graz selbst belief sich die
vorsichtig ermittelte Analphabetenrate bei den über 10-Jährigen auf 2,85 Prozent.
Das entspricht 3.704
Menschen, wobei es auffällt, dass Frauen weit mehr unter An-
alphabetismus litten als Männer.102 Es kann angenommen werden, dass sich die
Analphabetenrate im Zuge des fortlaufenden Einströmens der Soldaten in die
Stadt Graz veränderte. Inwiefern sie sich veränderte, bleibt jedoch ungewiss. Ich
vermute aber, dass die Rate aufgrund des unaufhörlichen Zuzugs von Personen aus
den ländlichen Regionen anstieg. Es kann nicht genug betont werden, dass viele
Grazer und Grazerinnen die einzelnen Mobilisierungsplakate nicht vollständig
verstanden haben. Das ist nicht allein auf die zum Teil lese- und schreibunkundige
Bevölkerung zurückzuführen, sondern auch aufgrund der nicht gewohnten „Mili-
98 Hier ist sowohl jenes zur Teilmobilmachung (27. Juli) als auch jenes zur Generalmobilmachung
(31. Juli, 1. „Mobtag“ war der 4. August) gemeint.
99 Der Sonntag, in: Grazer Tagblatt, 27.7.1914, 4.
100 Wie viele Menschen zur damaligen blind oder gehörlos (bis hin zu „taubstumm“) waren, konnte
ich nicht herausfinden. Diese Frage beschäftigte auch die „Statistische Zentralkommission“ der
Republik Deutsch-Österreich, die zu diesem Thema eine 100 Seiten umfassende Abhandlung
anfertigte. Aus heutiger Sicht ist diese von Viktor Gehrmann verfasste Studie in vielerlei Hinsicht
brauchbar und unbrauchbar zugleich. Sie ist ergiebig, wenn man sie im Hinblick auf ihre politi-
sche und sozialdisziplinierende Ausrichtung hin liest. Weniger informativ erweist sie sich, wenn
man den zahlreichen und quellenkritisch kommentierten Tabellen eine nachvollziehbare Rate
entnehmen möchte. Schließlich fielen z.
B. in die Gruppe der „Taubstummen“ auch die sogenann-
ten „Schwachsinnigen“ und „Kretins“. Vgl. Gehrmann (1919).
101 Ich stütze mich hier auf die Abhandlung „Der Bildungsgrad der Bevölkerung in den österr. Al-
pen- und Karstländern nach den Ergebnissen der letzten vier Volkszählungen 1880–1910“ von
Adalbert Rom, die 1913 in der „Statistischen Monatsschrift“ erschien, vgl. Rom (1913), 775,
799 f.
102 Rom (1913), 786, 800 f.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453