Page - 164 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 164 -
Text of the Page - 164 -
| Innenstadt und
Bahnhof164
Konträr zum (ersten) Straßenumzug erschien der wöchentlich erscheinenden
Grazer Montags-Zeitung zufolge eine „andere Gesellschaft“140 vor dem Redak-
tionsgebäude des Arbeiterwillens. Dieser (zweite) Straßenumzug forderte, dass
„jetzt auch dieses Blatt eine österreichfreundliche Haltung einnehme.“141 Der
Demonstrationszug startete vom Hauptplatz aus und zog über die Hauptbrücke
auf die rechte Seite der Mur. Von dort aus marschierte die Menschenmenge zum
Arbeiterwillen. Angeführt wurde die Demonstration von einem nicht namentlich
genannten Journalisten des Volksblatts: „Nicht unerwähnt darf ferner bleiben, daß
die vieltausendköpfige Menge auf Anregung des Schreibers dieses [Artikels] zur
Druckerei des ‚Arbeiterwille‘ zog und den vaterlandslosen Gesellen durch nicht
endenwollende Hoch Österreich-Rufe und Absingen der Volkshymne eine zeitge-
mäße Lektion erteilte.“142 Wer die Demonstration vor das Arbeiterwille-Gebäude,
dessen Kellerräume Anfang Juli noch wegen der Unwetter unter Wasser standen,
anregte, geht aus dem Leitartikel nicht hervor. Michael Schacherl, ein ehemali-
ger Chefredakteur des Arbeiterwillens, bezichtigte in seinem Anfang der 1930er
Jahre erschienenen, parteikonformen Buch „30
Jahre steirische Arbeiterbewegung
1890 bis 1920“ den Reichsratsabgeordneten Raimund Neunteufel als Redner vor
dem Arbeiterwillen.143 Karl Schwechler, Chefredakteur des Volksblatts144, kommt
vermutlich nicht in Frage, da er dem Vernehmen nach bis zum 28. Juli in Brüs-
sel (Bruxelles) war.145 Ungeachtet dessen, wer nun die Demonstration anführte,
140 Der gestrige Tag, in: Grazer Montags-Zeitung, 27.7.1914, [ohne Seitenangabe].
141 Ebd. Das Demonstrieren vor der jeweiligen gegnerischen Bastion (Parteizentrale und/oder Dru-
ckerei) war in Graz kein Novum, aber auch keine monatliche Prozedur. So demonstrierten nach
der Räumung einer katholischen Versammlung in der Steinfelder Bierhalle durch die Grazer Wa-
che einige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten vor der Druckerei des Grazer Volksblatts
(1903), vgl. Schwechler (1926), 274. Wenige Jahre zuvor schlug man im Zuge der Badeni-Unru-
hen (1897) die Fenster der katholischen Styria-Druckerei ein. Zu den Badeni-Unruhen volumi-
nös: Sutter (22014), des Weiteren: Moll (2007b), 376 f., 383f.; Hubbard (1984), 171 f.
142 Das Stimmungsbild in Graz, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1. Vgl. parallel:
Begeisterte Stimmung in Graz, in: Kleine Zeitung, 28.7.1914, 6.
143 Schacherl (1931), 268.
144 Karl Schwechler (1869–1927), Theologe, Journalist, Politiker, päpstlicher Geheimkämmerer,
erhielt 1892 die Priesterweihe und war u. a. Kaplan in Murau und Kindberg. 1895 trat er in
die Redaktion der Reichspost (Wien) ein. Danach schrieb er für die „Volkszeitung“ (Krefeld) in
Deutschland. Von 1900 bis zu seinem Tod arbeitete er als Chefredakteur des Grazer Volksblatts.
Er war u. a. Mitbegründer der Christlichsozialen Partei, des Verbands der christlichen Arbeiter-
vereine sowie des Jungsteierbunds. 1914 wurde er Obmann des Katholischen Volksbunds und
gilt als einer der Hauptinitiatoren des 3. Steirischen Katholikentages (1922). Vgl. Müller (2005).
145 Das schrieb zumindest Karl Schwechler in seinem katholischen Regionalklassiker „60 Jahre
Grazer Volksblatt. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung in Steiermark“, vgl.
Schwechler (1926), 29.
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453