Page - 165 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Antisozialdemokratischer Demonstrationszug | 165
kam es in diesen Tagen zu keiner weiteren Demonstration vor einer Grazer Zei-
tungsredaktion.146 Die Mehrheit der Grazer Zeitungen schwieg über den Vorfall
vor dem Redaktionsgebäude des Arbeiterwillens. Die Kleine Zeitung – die seit
Mitte Juli eine Kehrtwende zum klassisch Politischen durchführte – übernahm
zwar den Artikel „Das Stimmungsbild in Graz“147 des Volksblatts, ließ aber die
Stellen in puncto antisozialdemokratischer Demonstration kommentarlos weg.148
Diese Streichung zeugt aus meiner Sicht von einem gewissen Gespür, dass hier
ein „patriotischer“ Demonstrationszug zu weit ging. Die Streichung bedeutet aber
nicht, dass die Kleine Zeitung die antisozialdemokratische Demonstration öffent-
lich missbilligte. Denn die Demonstration wurde von der Kleinen Zeitung nicht
ausdrücklich als verwerflich erachtet. Der Arbeiterwille verschwieg den Vorfall
ebenso. In seinem Artikel „Die Hoffnung auf Nichteinmischung Rußlands“ schien
der Vorfall aber andeutungsweise durch: „Es geziemt sich daher auch für die Be-
völkerung, das Schwere mit Ernst zu tragen, und sich nicht durch unverantwort-
liche, fern vom Schuß bleibende Zeitungsschreiber und hitzige junge Leute über
den furchtbaren Ernst der Lage hinwegtäuschen zu lassen.“149 Worte wie diese sind
für den Arbeiterwillen dennoch nicht neu. Im Juli äußerte er nämlich täglich sei-
nen Unmut über die bürgerlichen Blätter, die in seinen Augen den „Serbienkrieg“
nur „herbeischreiben“ würden. Diese Kritik äußerte er auch im ersten Kriegsjahr.
So schrieb der Arbeiterwille mehrmals, dass nur er – zu einer Zeit, als „verant-
wortungslose und ahnungslose Leute hinter kugelsicheren Redaktionstischen den
Krieg noch als Spielerei, als einen harmlosen Spaziergang mit einer Militärkapelle
betrachteten“ – angemessen geschrieben hätte.150
146 In Wien demolierte man z. B. am 4. August 1914 das Redaktionsgebäude der antisemitischen
Satirezeitschrift „Kikeriki. Wiener humoristisches Volksblatt“ (Wien), weil es Franz Conrad von
Hötzendorf, den Kriegsminister Alexander von Krobatin und den k. k. Landesverteidigungsmi-
nister Friedrich von Georgi karikierte. Vgl. den bissigen Artikel in der Arbeiter-Zeitung: Der
„Kikeriki“ demoliert, in: Arbeiter-Zeitung, 5.8.1914, 7. Von dem Vorfall erfuhr man auch in
Graz: Das Redaktionslokal des „Kikeriki“ demoliert, in: Grazer Tagblatt, 5.8.1914 (Abendaus-
gabe), 4. Die besagte Karikatur findet sich in: Der Hötzendorf ist auf der Höh’, der Georgi hat sich
g’waschen, und der Krobatin hat schon Gefangene gemacht, in: Kikeriki, 26.7.1914, 10.
147 Das Stimmungsbild in Graz, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1.
148 Begeisterte Stimmung in Graz, in: Kleine Zeitung, 28.7.1914, 6.
149 Die Hoffnung auf Nichteinmischung Rußlands, in: Arbeiterwille, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1.
150 Der Ernst des Krieges, in: Arbeiterwille, 22.10.1914, 1.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453