Page - 177 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Großbritannien und Italien | 177
tungen zu bedeuten“ hätten.217 An anderen Stellen schrieben die Zeitungen wieder,
dass es „Nachrichten über umfangreiche russische Rüstungen“ gebe.218 Zusätzlich
dazu war unklar, ob Russland im Falle eines Kriegs gegen Österreich-Ungarn auch
gegen das Osmanische Reich vorgehen würde. Von Zeit zu Zeit spielte die Gra-
zer Presse mit dem Gedanken, dass Russland mehr gegen das Osmanische Reich
vorgehen werde, weil es nur die Truppen in der Nähe der Dardanellen mobilisiert
habe. Dieses Kriegsszenario brachte zum Beispiel das Tagblatt am 31. Juli in sei-
ner Rubrik „Letzte Drahtnachrichten“, in der das Blatt den französischen Le Fi-
garo (Paris), das Agenturbüro Reuters und die „Frankfurter Zeitung“ (Frankfurt/
Main) zu Wort kommen ließ.219 In derselben Ausgabe brachte das Tagblatt aber
wie schon oben ausgewiesen die Nachricht von einer anderen deutschen Zeitung,
die wiederum von dem deutschen Ultimatum an Russland berichtete.220 Die Zei-
tungen der letzten Julitage waren daher massiv von einer enormen Ungewissheit
und Unklarheit bezüglich der politischen Großwetterlage gekennzeichnet. Das
Drucken von Berichten, die auf Berichten über Berichte fußten, war gang und
gäbe. Zieht man daher alle „Blätterwälder“ und „Drahtnachrichten“, die man in
den damaligen Zeitungen finden kann, zusammen, blieben die Grazerinnen und
Grazer bis zum 1. August im Unklaren über die (bereits seit zwei Tagen laufende)
russische Generalmobilmachung. Schlussendlich lassen sich viele weitere Verzö-
gerungen bezüglich der Nachrichtenübermittlung finden, die in vielen Fällen auf
die fehlende Nachrichtenfreigabe des Staats zurückzuführen sind.221 Die entspre-
chenden Abweichungen bzw. Zeitverzögerungen schlugen sich nicht nur in einem
teils widersprüchlichen Artikelmeer nieder, sondern fanden sich auch in einer
tabellarischen Kurzchronologie des Arbeiterwillens. Der Arbeiterwille druckte
am 9. August eine knappe Auflistung der bisher erfolgten Kriegserklärungen und
militärischen Aktionen. In dieser vom Arbeiterwillen selbst angefertigten Chro-
nologie liest man zum Beispiel, dass die deutsche Kriegserklärung an Russland am
2. August (!) erfolgte und dass sich Italien am 7. August (!) für neutral erklärte.
(Tatsächlich geschah beides am 1. August.) Dabei versuchte der Arbeiterwille ge-
rade mit dieser Chronologie seine „Leser der Sonntagsnummer“ davon zu über-
zeugen, dass es „vollständig unzureichend“ sei, wenn man „in der jetzigen Zeit [...]
217 Ein Schritt Deutschlands in Rußland, in: Grazer Tagblatt, 31.7.1914 (Abendausgabe), 1.
218 Kämpfe vor Belgrad, in: Arbeiterwille, 31.7.1914, 1.
219 Die russische Mobilisierung, in: Grazer Tagblatt, 31.7.1914 (Abendausgabe), 6.
220 Ein Schritt Deutschlands in Rußland, in: Grazer Tagblatt, 31.7.1914 (Abendausgabe), 1.
221 Zum Beispiel erfuhren die Grazerinnen und Grazer vom (vermeintlich) freiwilligen Rückzug aus
Lemberg (Lviv) erst Tage später, siehe das Kapitel: Erste „Entscheidungsschlachten“.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453