Page - 188 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof188
alle Menschen können sich nicht irren. Einmal marschierten auch die Pfadfinder
mit. Die Anwesenheit der Pfadfinder wurde von einigen (bürgerlichen) Zeitungen
besonders hervorgehoben.279 Der Arbeiterwille blendete dies aus, wünschte aber
den „Krieger[n]“ alles Gute und erhoffte ein „baldiges, baldiges und frohes Wie-
dersehen“ mit ihnen.280 An diesem schwülen Dienstag, den 11.
August war die Welt
bereits eine andere, wenngleich der Krieg noch kein „Stellungskrieg“ und „Ermat-
tungskrieg“ war. Dennoch waren sich die Grazerinnen und Grazer bewusst, dass es
ein Weltkrieg oder ein „Weltenbrand“ war, der bereits auf Afrika übergriff und der
sich auch in Asien ausbreiten könnte.281 Der „Volkskrieg“ hatte Graz in diesen Ta-
gen bereits stark verändert. Zwar reduzierten sich die Lebenschancen noch nicht
auf bloße Überlebenschancen, aber die Stadt wurde mit Ausnahme des Bahnhofs
zunehmend leiser und stiller. Die „Mobilisierungshektik“ der letzten Julitage
nahm ab und größere „patriotische“ Straßenumzüge kamen seit der Nachricht,
dass Russland nun tatsächlich seine Generalmobilmachung einleitete, nicht mehr
zustande. Am 11. August war auch der Andrang auf die Geldinstitute bereits vor-
bei. Desgleichen gingen die Hamsterkäufe spürbar zurück. Lediglich im genossen-
schaftlich organisierten Allgemeinen Spar- und Konsumverein kaufte man noch
über den eigenen Normalbedarf ein.282 Die Angst vor Feindspionage blieb indes
hoch. Nur zwei Tage vor dem Truppenabmarsch verhaftete beispielsweise die Gra-
zer Sicherheitswache einen „Spion“ am Hauptbahnhof.283 Der Arbeiterwille, der
wie die anderen Tageszeitungen sowohl vor Spionen und Spioninnen warnte als
auch die „Spionenfurcht“ in der Bevölkerung verschmähte, brachte am 11.
August
unter der Schlagzeile „Ein nachahmenswerter Erlaß gegen die verrückte Spionen-
furcht“ einen Erlass des Polizeidirektors von Stuttgart:
„Schutzleute! Die [Stuttgarter] Einwohnerschaft fängt an, verrückt zu werden. Die
Straßen sind von alten Weibern beiderlei Geschlechts erfüllt, die sich eines unwürdi-
gen Treibens befleißigen. Jeder sieht in seinem Nebenmenschen einen russischen oder
französischen Spion und meint, die Pflicht zu haben, ihn und den Schutzmann, der sich
seiner annimmt, blutig zu schlagen, mindestens aber unter Verursachung eines großen
Auflaufs ihn der Polizei zu übergeben. [...] Schutzleute, behaltet auch weiterhin kaltes
279 Siehe das Kapitel: Pfadfinder und Wandervogel.
280 Der Abschied der Krieger, in: Arbeiterwille, 11.8.1914 (Abendausgabe), 3.
281 Der Krieg in Afrika, in: Grazer Tagblatt, 10.8.1914 (Abendausgabe), 1; Ein Bündnis zwischen
Oesterreich-Ungarn und Japan?, in: Grazer Tagblatt, 4.8.1914, 15.
282 Siehe das Kapitel: Hamsterkäufe.
283 Siehe das Kapitel: Infiltrierendes „Spinnennetz“.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453