Page - 193 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Nach dem Truppenabmarsch am 11. August | 193
gen. Vielmehr jubelten sie den Menschen, die ihrem Verständnis nach dazu bereit
waren, das „Vaterland“ und die „Heimat“ (die Familie) mit dem eigenen Leben
zu schützen, zu.299 Im besten Falle akklamierte man jenen Menschen, mit denen
man emotional verbunden war (dem Vater, dem Bruder, dem Onkel, dem Freund).
Ungeachtet dessen, ob man kurz sein Geschäft verließ, um den fallweise vorbeizie-
henden Soldatenzügen auf der Straße zuzujubeln, oder ob man eine Zeitlang mit
ihnen mitging, um sich von ihnen zu verabschieden, sah man junge Männer, die
die neuen (hechtgrauen) Uniformen trugen: „So weit das Auge reichte, sah man
nur mit Blüten dicht besteckte Mützen. Auch aus den Gewehrläufen, die sonst Tod
und Verderben bringen, ragt es blühendes Leben.“300 Die Grazer Genossenschaft
der Handelsgärtner und Blumenhändler stattete viele Soldatenabteilungen gratis
mit Blumen aus.301 Auch an dieser Blumenaktion zeigt sich, wie sehr der Mittel-
stand zum staatsloyalen und militarisierten Stadtbild beitrug. Nichtsdestoweniger
bekamen nicht alle Truppengattungen unentgeltlich Blumen zur Verfügung ge-
stellt. Einem Bericht des Oberstaatsanwalts entnimmt man zum Beispiel, dass sich
die Soldaten des 2. bosn.-herzeg. Infanterieregiments selbst mit Blumen schmück-
ten mussten: „Sie wollten nicht anders ausziehen als das Hausregiment; man soll
glauben, dass auch sie von fremder Hand geschmückt wären; sie wollen sich im
Kriege aber so benehmen, dass bei ihrer Rückkehr die Grazer stolz auf sie seien
werden.“302
Das angespannte Verhältnis zwischen dem 2. bosn.-herzeg. Infanterieregiment
und Teilen der Bevölkerung verlor seit dem großen Zapfenstreich (28. Juli) an In-
tensität. Die Abfahrt der „Bosniaken“303 trug weiter zu dieser Entspannung bei,
zumal dem Bericht des Oberstaatsanwaltes zufolge viele Menschen den Soldaten
„Živijo“-Rufe erteilten.304 Hierbei muss es sich nicht zwangsläufig um „deutsche“
Grazer und Grazerinnen gehandelt haben. Immerhin lag der Anteil an Slowenen
(die ja auch Grazer und der deutschen Sprache mächtig waren) bei rund 11 Pro-
zent.305 Wer nun vorwiegend „Živijo“ rief, ist ob der Tatsache, dass seit Anfang Sep-
299 Zu einem ähnlichen Schluss kommen: Stöcker (22014), 171; Überegger (2002), 259; Raithel
(1997), 39 und (1996), 423, 457 f.
300 Abschied, in: Grazer Tagblatt, 11.8.1914 (Abendausgabe), 6.
301 Statt Blumen zu Allerheiligen – Spenden für das Rote Kreuz?, in: Grazer Tagblatt, 30.9.1914
(2. Morgenausgabe), 5.
302 Oberstaatsanwaltschaft an Statthalterei-Präsidium, 23.6.1916, in: StLA, Statt. Präs. E91/1369/1916.
303 Es fuhren nicht alle „Bosniaken“ an die Front. Einige von ihnen wurden, wie einige Soldaten der
anderen Truppenteile auch, an der „Heimatfront“ oder in der Etappe eingesetzt.
304 Oberstaatsanwaltschaft an Statthalterei-Präsidium, 23.6.1916, in: StLA, Statt. Präs. E91/1369/1916.
305 Siehe das Kapitel: Vier Leitpanoramen.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453