Page - 197 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Abschiedsszenen | 197
ten auch die Frauen. Viele von ihnen waren nun schlagartig Ernährer und Erzie-
her zugleich. Zwar waren sie Monate davon entfernt, ein von Rationierungen und
Normierungen bestimmter „Kartenmensch“322 zu werden, aber es wäre unange-
bracht, wenn man retrospektiv die akut werdenden Alltagsprobleme verharmlosen
würde. Erstens standen die Frauen am Bahnhof und wussten, dass es vielleicht das
letzte Mal sein könnte, dass sie ihren Mann oder Vater (oder sonst einen geliebten
Menschen) sehen würden. Zweitens hatten sie – wie die Männer – im Grunde
genommen keine Ahnung davon, was die allgemeine Wehrpflicht im Ernstfall für
Folgen mit sich bringen würde. Viele Männer stellten sich beispielsweise Fragen
bezüglich der Pensionsversicherung oder der Lebensversicherung. Von den vie-
len Quellen, die man hier zitieren könnte, verweise ich auf eine Presseaussendung
der Landesstelle Graz der Allgemeinen Pensionsanstalt sowie auf eine typische
Zeitungsannonce, die eine Lebensversicherung bewarb.323 Fragen wie diese galt
es zu klären. Das schloss auch die Unterstützungsfrage mit ein.324 Ferner musste
man sich fragen, ob der Soldat alles mithabe, was er im Krieg brauchen könn-
te.325 Die Frauen und Männer an der „Heimatfront“ hatten nicht nur Angst, dass
an der Front etwas schief gehen könnte, sondern sie sorgten sich auch wegen des
eigenen Umfelds vor Ort. Die Preise stiegen weiter an und die Schlägereien und
Messer- bzw. Bajonettattacken hörten nicht auf.326 Nachdem die Züge abgefah-
ren waren, galt es, sich weiter auf den zeitraubenden Kriegsalltag einzurichten.
Und diese Tätigkeit konnte kein Ende kennen, weil jeder Tag aufs Neue gewisse
Unsicherheiten und Problemlagen schuf. Wenn man beispielsweise als Frau ar-
beitslos327 oder schwanger war328, konnte man aus meiner Sicht dem Krieg, wie er
322 Für die Steiermark lassen sich folgende Karten nachweisen: Mehl-, Zucker-, Brot-, Kaffee-,
Milch-, Fett-, Fleisch-, Kohlen-, Petroleum-, Kerzen-, Seifen- und Gasthauskarte sowie wei-
tere Bezugsscheine, vgl. nur: Die Einführung einer Gasthauskarte, in: Grazer Mittags-Zeitung,
25.9.1917, 3.
323 Abmeldung der Einberufenen von der Pensionsversicherung, in: Grazer Tagblatt, 31.7.1914, 7;
Kriegs-Versicherung [Annonce], in: Grazer Volksblatt, 1.8.1914, 7.
324 Wo melde ich mich an?, in: Grazer Volksblatt, 20.8.1914, 3.
325 Siehe das Kapitel: Ausstattungsfrage und Postämter.
326 Siehe die vier Kapitel: Infiltrierendes „Spinnennetz“, Ausschreitungen, Demonstrationen vor Ge-
schäften und Soldaten abseits der Truppe.
327 Siehe das Kapitel: Arbeitslosigkeit.
328 Ein feinfühliges Beispiel: „An einem der letzten Abende saß ich [?] einsam auf einer der Bänke,
die in der Nähe des Kriegerdenkmales [der „Bosnier“ am Radetzkyspitz, sprich Kreuzung Ra-
detzkystraße/Joanneumring] zur Ruhe einladen. Eine junge Frau mit zwei Kindern, einem Kna-
ben und einem Mädchen, nahm neben mir Platz. Die Erscheinung und die Züge der Mutter
verrieten die Nähe einer Familienvermehrung. Bald war dem Knaben die Zeit bei der schweig-
samen Gruppe zu lang geworden, er schlich sich in die Nähe des Denkmales und betrachtete es
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453