Page - 200 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 200 -
Text of the Page - 200 -
| Innenstadt und
Bahnhof200
„Tränen stürzen aus ihren Augen. Sie will ihn nicht loslassen, den Geliebten, den Einzi-
gen, den sie unterm Herzen getragen, mit Schmerzen geboren hat; sie will ihn festhalten,
festhalten mit ihrer ganzen Seele. Da drängt sich ein alter Herr hinzu und sucht sie zu
beruhigen. Auch ihm brennen die Augen, aber, er will stark sein, stark, wenn das Vater-
land seinen Sohn ruft.“336
Wenn hier von alten Menschen die Rede ist, darf dies nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass die Zeitungen in diesen Wochen die höheren Alterskohorten weitge-
hend außer Acht ließen. Was die Grazer Zeitungen (von 1914) anbelangt, schienen
ältere Menschen nur in den Abschiedsszenen mehrmals auf. Weder wandte sich
die Presse ernsthaft den Themen und Belangen älterer Menschen zu, noch wur-
den ältere Menschen großflächig auf den hinteren oder vorderen Zeitungsseiten
instrumentalisiert. Eine Verklärung des „Greisenalters“ erfolgte lediglich in den
Berichten hinsichtlich des „greisen“ Kaisers (der selbst im „Lebensherbst“ noch
zu einem so schweren „Gang“ gezwungen sei) sowie in den (wirkmächtigen) Pseu-
dogeschichten, denen zufolge sich viele Menschen selbst im hohen Alter noch für
den Kriegsdienst freiwillig gemeldet hätten (= Ausdruck von „Geschlossenheit“,
dem „Verteidigungskrieg“ und dem Ernst der Lage).337 Die Berichte, in denen man
sich den älteren Personen zuwandte, standen aber in keinem quantitativen Ver-
hältnis zu der Artikelflut, die die jüngeren Alterskohorten thematisierte. Der Tren-
nungsschmerz durfte den Pressevorgaben zufolge nicht dazu führen, dass man
am Bahnsteig oder sonst wo resignierte, geschweige denn in Lethargie verfiel. Die
Textstellen, in denen von weinenden Frauen sowie von weinenden (und zurück-
bleibenden) Vätern die Rede ist, endeten stets mit dem expliziten Appell, dass man
nun stark sein müsse:
„Schon gestern [am 26. Juli] gab es für viele schwere Stunden. Es galt Abschied zu neh-
men. Mutter, Gattin, Schwester, Kinder gaben ihrem Lieben, der über Nacht zum Kriegs-
manne wurde, das letzte Geleit zum Bahnhofe, denn viele müssen sich in auswärtigen
Garnisonsorten melden. Umarmung, Küsse, Tränen. Immer wieder Küsse, bis der Schei-
dende durch das Signal zum Einsteigen sich aus der Umarmung befreien mußte. Ein
Winken mit dem Taschentuch, begleitet von heißen Tränen, und der Kriegsmann wurde
von der Lokomotive entführt. Ermunternd sagt das gebeugte Mütterchen zu der weinen-
336 Abschiednehmen, in: Grazer Montags-Zeitung, 3.8.1914, [ohne Seitenangabe].
337 Vgl. z. B. Der älteste Kriegsfreiwillige in Graz, in: Grazer Tagblatt, 17.9.1914, 2.
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453