Page - 210 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof210
nen Lorbeerkranz überreichte. Ebenso sah man eine schwarz-gelbe Schleife, auf
der mit Goldlettern stand: „Gott beschütze unseren Kaiser, Gott beschütze unser
Land.“385 Zusammen gesehen trugen diese Schaufenster daher massiv zu einem
von militärischen und nationalen Symbolen geprägten Stadtbild bei.386 Der Arbei-
terwille druckte zwar die Geld einbringenden Annoncen der großen Ausstattungs-
häuser, aber er fertigte keine pathetisch-schwülstigen Schaufensterbeschreibungen
von sich aus an.387 Vielmehr missbilligte er die in den Schaufenstern zu sehenden
kriegschauvinistischen Produkte. Das beste Beispiel hierfür wäre seine Ablehnung
der sogenannten „Kriegsulkkarten“. Dutzende Grazer Mittelstandsbetriebe ver-
suchten mit diesen Postkarten (auf denen kitschige bis hin zu kriegschauvinisti-
sche Bildmotive zu sehen waren) Geld zu verdienen. Der Arbeiterwille zeigte sich
jedoch schockiert über die aus seiner Sicht künstlerisch wertlosen „Kriegsulkkar-
ten“, da sie eine geschmacklose Verharmlosung des „Ernstes dieser Zeit“ seien:
„Orgien der Roh[h]eit und Geschmacklosigkeit sieht man heute vielfach auf sogenann-
ten ‚Kriegsulkkarten‘. Hier wird ein Franzose in Stücke zerhackt, dort ein Russe mit den
Stiefeln bearbeitet – und was dergleichen Bildchen mehr sind. Sie sind, künstlerisch
gemessen, ebenso wertlos, wie sie witzlos und gemein sind und eine Verhöhnung des
Ernstes dieser Zeit darstellen. [...] Wichtig wäre vor allem, daß das Publikum überall
diese Karten so behandelt, wie sie es verdienen – indem es sie mit dem Gefühl des Ekels
ignoriert.“388
Im Rahmen der Kaiserfeiern von 1914 kletterten auch zwei Männer unabhängig
voneinander auf zwei Kirchenturmspitzen, um am Blitzableiter eine Fahne anzu-
bringen. In beiden Fällen verfolgte eine Menschenmenge das Spektakel vom Boden
aus, indem sie die Kletterer anfeuerte und ihnen zujubelte. Konträr zum Arbeiter-
385 Kaisers Geburtstag und die Grazer Geschäftswelt, in: Grazer Tagblatt, 18.8.1914 (Abendausgabe),
2. Der Artikel wies auch aus, wer diese Auslage gestaltete: „Die hübsche Gruppe wurde mit ge-
schickter Hand von Herrn Josef Müller gestellt.“
386 Vgl. auch folgende Schaufensterbeschreibung: „Es vergeht wohl kein patriotischer Anlaß, an wel-
chem sich nicht das Grazer Ausstattungshaus [... Emil Kraft & Co] beteiligt. Wieder ist aus Anlaß
des Geburtsfestes unseres verbündeten Monarchen des deutschen Kaisers geschmackvollst ein
Schaufenster hergerichtet. Eine lebensgroße Büste Kaiser Wilhelms ist umgeben von Lorbeer-
bäumen und Blattpflanzen. Fahnen und Bänder in reichsdeutschen und österreichischen Farben
zeigen in der Zusammenstellung den vorzüglichen durchaus unaufdringlichen Geschmack des
Arrangeurs. Dazu eine stimmungsvolle Beleuchtung, welche auf die Büste ihre magisches Licht
wirft.“ Aus: Zeitgemäßer Schaufensterschmuck, in: Grazer Mittags-Zeitung, 27.1.1915, 3.
387 Der Traum eines Reservisten [Annonce], in: Arbeiterwille, 6.12.1914 (2. Ausgabe), 10.
388 Gegen die „Kriegsulkkarten“-Roh[h]eit, in: Arbeiterwille, 8.10.1914, 3.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453