Page - 224 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof224
Wahrheit vertragen können. Zerschmetternd wird sie ja nicht sein. Die Deutschen ste-
hen vor Paris. Die Russen wahrscheinlich vor Lemberg.“464
Die kontraproduktive Überbetonung hinterließ demnach ein mulmiges Gefühl bei
manchen Grazern und Grazerinnen. Aus diesem Grund zogen Anfang September
viele Menschen zum Hauptbahnhof, um die zurückkommenden Verwundeten zu
sehen, ihnen zu helfen und sie zu befragen.465 In den verbliebenen Monaten des
Jahrs 1914 kam es nicht mehr zu einer dermaßen augenfälligen Überbetonung ei-
nes militärischen Flügels. Redaktionell bewerkstelligt wurde dies unter anderem
durch Heranziehung der Metapher von der „Zange“466 bzw. der Zangenbewegung,
der zufolge beide Hebel gleich stark auf den Gegner einwirken. Obgleich die Flü-
gel-Geschichte einige Folgen mit sich brachte, kann nicht übersehen werden, dass
das symbolträchtige „Lemberg“ einen enormen Stellenwert in den Zeitungen hatte.
Während am Grazer Bahnhof die ersten Verwundeten von der (österreichisch-
ungarischen) Nordostfront ankamen, schrieben die Zeitungen noch in der ers-
ten Septemberwoche von den Erfolgen rund um die Hauptstadt des Königreichs
Galizien und Lodomerien. Zur Verdeutlichung kann hier auf die Mittags-Zeitung
verwiesen werden. Für sie war Anfang September der „mit Aufwand von viel The-
atereffekten begonnene Krieg [...] bereits so gut wie entschieden“.467 Im Grunde
genommen schrieben die Grazer Zeitungen noch über Siege, als Lemberg (Lviv)
bereits geräumt werden musste.468 Peter Rosegger wird diesen Umstand später ein-
mal in seiner Oktoberausgabe des Heimgartens kritisieren:
„Provinzblätter brachten gestern die Nachricht, daß Lemberg geräumt worden sei. Die
großen Wiener Blätter brachten gestern diese Botschaft nicht und bringen sie auch heute
nicht. Hingegen wiederholen sie alte Siegesnachrichten ein drittes oder viertes Mal. Das
ist nicht aufrichtig. Wie soll man den Siegesnachrichten Glauben schenken können,
464 Heimgärtners Tagebuch, in: Heimgarten (1914), Nr. 1, 66.
465 Siehe die drei Kapitel: Erste „Soldatenerzählungen“, Grazer Frauenhilfskomitee und Transportko-
lonne am Bahnhof.
466 Die österreichisch-deutsche Zange im Norden, in: Grazer Mittags-Zeitung, 14.12.1914, 1.
467 Die französische Revanche, in: Grazer Mittags-Zeitung, 4.9.1914, 1. Hinsichtlich der Schlagzeile
des hier zitierten Artikels sei gesagt, dass Frankreich keine Revanche für die Niederlage von 1971
wollte. Es waren andere Gründe, warum Frankreich in den Ersten Weltkrieg zog. Vgl. den Leitfa-
den von: Krumeich (2014), 17.
468 Die Diskrepanz zwischen dem eigentlichem Frontgeschehen und den aufpolierten Heeresberich-
ten ist heute bekannt.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453