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Erste „Soldatenerzählungen“ | 239
denen zufolge Kriegsgefangene und Zivilinternierte, die „den besseren Schichten“
angehören, nach Tobelbad, Plankenwart oder Rein gebracht würden.555 Diese Ver-
suche von Gerüchteeindämmung verdeutlichen, dass die Zeitungen nur einen ge-
ringen Teil der öffentlichen Meinung bilden. Schließlich finden sich in der Presse
keine Andeutungen, dass die nach Graz überstellten „Feinde“ – konträr zu den
Verwundeten der k.
u.
k.
Armee556 – an bekannten Erholungsorten und Kuranstal-
ten versorgt werden würden. Die „Autopsieberichte“ des Tagblatts und der Tages-
post diffamierten darüber hianus die (angeblich) „verräterischen“ Geistlichen Ga-
liziens (zeitgenössisch meist abwertend: „Pope“557, ähnlich dem Begriff des
„Pfaffes“). Diese „Soldatenerzählungen“ zeigen unverkennbar, wie sehr die
deutschnationalen Zeitungen die galizische Bevölkerung und insbesondere die
(katholischen) „Popen“ verabscheuten. Wohlwollende Äußerungen hinsichtlich
der galizischen Bevölkerung sucht man beispielsweise im Tagblatt und seinem
ständig wiederkehrenden Primat des „Deutschtums“ (in Politik, Wissenschaft und
Kunst) vergebens. Ähnlich urteilten die „Autopsieberichte“ des Tagblatts über ga-
lizische Juden. In einer dieser „Mitteilungen eines Verwundeten“ hieß es, dass
k. u. k. Soldaten einem galizischen Juden eine rechtmäßige Behandlung widerfah-
ren ließen, zumal der Jude ein sogenannter Wucherer gewesen sei.558 Für den
Arbeiterwillen, der seit dem Sarajevoer Attentat täglich die bürgerlichen Redakti-
onen kritisierte, dienten die Verwundeten als Kontrast zu den daheimgebliebenen
Journalisten der bürgerlichen Presse sowie zu denjenigen, die den Krieg auf die
leichte Schulter nahmen.559 Letztendlich war seine Kritik an den „wohlgeschützten
Redaktionsschreibtisch[en]“560 bzw. an den „verantwortungslose[n] und ah-
nungslose[n] Leute[n] hinter kugelsicheren Redaktionstischen, [die] den Krieg
555 Ebenso wie Marienbad (Mariánské Lázně) und Karlsbad (Karlovy Vary) berühmte Kurorte der
Habsburgermonarchie.
556 Verwundetentransport nach Tobelbad, in: Grazer Tagblatt, 12.9.1914, 3.
557 Aus den Mitteilungen eines verwundeten steirischen Offiziers, in: Grazer Tagblatt, 4.9.1914, 3.
558 Aus den Mitteilungen eines Verwundeten, in: Grazer Tagblatt, 3.9.1914, 3: „Einem Juden, der
viele Enten auf seinem Hofe hatte, boten [die österreichischen, zahlungsfähigen und zahlungs-
willigen Soldaten] für ein Stück 3 [... Kronen], obwohl der landesübliche Preis höchstens 2 [...
Kronen] beträgt. Da der Jude sich weigerte, seine Enten herzugeben, wurden ihm alle weggenom-
men. Nun lebten die Soldaten wieder gut.“
559 Bei den Verwundeten, in: Arbeiterwille, 5.9.1914, 3: „Wohl gab es keine Jauchzerei mehr und
kein Geschrei mehr, wie bei der Abfahrt, aber auch keine Traurigkeit und keinen Jammer. Wohl
waren alle die Männer ernst, recht ernst geworden, aber doch voll Hoffnung und Zuversicht und
vor allem getragen von der Erkenntnis getreuer Pflichterfüllung und von einem gewissen Stolz,
dieses Pflichtgefühl nicht allein mit Worten, sondern auch durch die Tat zum Ausdruck gebracht
zu haben.“
560 Nach zehn Wochen, in: Arbeiterwille, 18.10.1914, 1.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453