Page - 240 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof240
noch als Spielerei, als einen harmlosen Spaziergang mit einer Militärkapelle“ be-
trachteten561, omnipräsent. Unentwegt verurteilte er die bürgerlichen „Kraftmeier“,
die „Strategen hinter dem Ofen“, das „Maulheldentum“, das „Mauldreschertum“,
die „Maulpatrioten“, die „Wirtshauspatrioten“ und die „Wirtshauskrieger“.562 Sie
alle würden sich nur nach einem Mittagsschlaf in einem Kaffeehaus amüsieren und
die „Lebensmittelwucherer“ mit Taten und das „Vaterland“ mit den Lippen vertei-
digen.563 Das ständige Anprangern der „Kaffeehausbegeisterung“564 und der
„Bierbankbegeisterung“565 bildete am Ende einen wesentlichen Grundzug seiner
Grazer Lokalanalysen. Der Artikel „Patriotismus“ vom 7. August führt dies deut-
lich vor Augen. Er betont zudem das widerstandlose Einrücken der Sozialdemo-
kratie, obgleich diese „einem ungewissen Schicksal entgegen“ gehe:
„Mit der Haltung der Sozialdemokraten, die einem ungewissen Schicksal entgegengehen
und schwere Opfer bringen, vergleiche man die Sorte von scheinpatriotischen Bürgern,
die zuerst am lautesten ‚Nieder mit Serbien!‘ schrien, dann aber, als der Krieg da war,
vor allem daran dachten, durch Bewucherung der einrückenden Vaterlandsverteidiger
und der ganzen übrigen Bevölkerung ihre Geldbeutel zu füllen. Mit diesen Leuten, vor
deren langen Fingern die Regierung und die Landesbehörden die Bevölkerung durch
die schärfsten Maßnahmen zu schützen versuchen mußten, in Patriotismus zu konkur-
rieren, das verschmähen wir Sozialdemokraten stolz, wir, die gewohnt sind, ohne viel
Aufhebens nach unserer Überzeugung zu handeln und unsere Pflicht zu erfüllen, sei es
im Kampf für die Erhaltung des Friedens, sei es im Kriege selbst, wenn sich die Völker
noch zu schwach erwiesen haben, ihn zu verhüten.“566
561 Der Ernst des Krieges, in: Arbeiterwille, 22.10.1914, 1.
562 Die Zitate stammen aus: Wo bleibt die Vorsorge?, in: Arbeiterwille, 14.11.1914, 1; Junges Maul-
heldentum, in: Arbeiterwille, 2.12.1914, 3; Patriotismus, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abend-
ausgabe), 1; Falscher Patriotismus, in: Arbeiterwille, 13.8.1914 (Abendausgabe), 2; Wirst nicht
gleich „Hoch Österreich!“ rufen?, in: Arbeiterwille, 9.10.1914, 5; Wirtshauskrieger!, in: Arbei-
terwille, 12.11.1914 (Abendausgabe), 2 [Hier meinte man aber einen Mann, der vorgab an der
Front gewesen zu sein. Siehe dazu das Kapitel: Diebstahl und Betrug]. Siehe auch die vier Kapitel:
Antisozialdemokratischer Demonstrationszug, Mietzins, Kirchen und Friedhöfe und Über die
„Sprachbereinigung“.
563 Vgl. z.
B. Die Hoffnung auf Nichteinmischung Rußlands, in: Arbeiterwille, 27.7.1914 (Abendaus-
gabe), 1.
564 Zur Kritik an der „Kaffeehausbegeisterung“ siehe z. B. den Artikel: Die Kriegsstimmung – im
Kaffeehaus, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 3.
565 Vgl. z. B. Wirkungen der Bierbankbegeisterung, in: Arbeiterwille, 23.9.1914 (2. Ausgabe), 5.
566 Patriotismus, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 1.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453