Page - 250 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof250
auf die Burgfriedensmetaphorik zurück.611 In vielen Fällen sprach man lediglich
von der „richtigen“ Art und Weise, wie man „Patriotismus“ leben sollte. Mehr-
fach zirkulierte auch die Rede vom Ende des „Nationalitätenhaders“. So schrieb die
bürgerliche Presse in ihren Leitartikeln oft über das Begraben der „Nationalitäten-
streitaxt in Oesterreich“612, da die „vielen Nationen [...] die kleinen Beschwerden
des Alltags vergessen“613 haben. Am Ende sind das „Staatsgefühl, das wir solange
vermißt“ sowie „der leitende Gedanke, der uns bei den inneren Kämpfen abhan-
den gekommen [...] mit Urkraft lebendig geworden.“614 Die Tagespost sprach auch
von einem begeisterten „Staats- und Selbstgefühl“, das „die Gaue der Monarchie
durchbraust“615 sowie von einem erwachten „alte[n] Kriegergeist, der Österreichs
Völker seit Jahrhunderten beseelte und den die Feinde des Reiches entschlafen
meinten“616. Und das Volksblatt sprach pausenlos von dem „ruhmreiche[n] und
überraschende[n] Sieg des Staatsgedankens über das Nationalitätenprinzip“.617 Zu-
dem griff die Grazer Presse teilweise auf den Begriff „Gottesfriede“ zurück. Aber
selbst diese Redewendung kannte „mehrere“ Auslegungen. Unter dem „Gottesfrie-
den“ verstand beispielsweise die (deutschnationale) Deutsche Zeitung das Been-
den der politischen Konflikte zwischen den deutschen (daher nicht den „slawi-
schen“) Parteien Österreichs: „Seit Kriegsausbruch besteht unter allen deutschen
Parteien Oesterreichs ein Gottesfriede.“618 Präzisiert wurde diese Vision wie folgt:
„Die große Zeit, die mit übermächtiger Gewalt über uns hereingebrochen ist, hat
den Hader der deutschen Parteien Oesterreichs zum Schweigen gebracht und das
erfreuliche Ergebnis gezeitigt, daß sich alle deutschen Parteien von der äußersten
Linken bis zur Rechten in den großen Dienst des Reiches und des Vaterlandes
gestellt haben.“619
Für die Sozialdemokratie, respektive für den Arbeiterwillen, würde der „Got-
tesfriede“, den der deutsche Kaiser Wilhelm II. proklamierte, in der „Donaumo-
narchie“ nicht funktionieren. Ausschlaggebend hierfür seien – seiner mehrfach
bekundeten Auffassung zufolge – mächtige Interessengruppen, die ihre eigenen
Vorstellungen, wie der Krieg zu führen sei, nicht den Belangen des Staats bzw. des
611 In Deutschland war hingegen der Begriff „Burgfrieden“ omnipräsent.
612 14 Kriege, in: Grazer Mittags-Zeitung, 8.9.1914, 1.
613 Ein einig Volk von Brüdern, in: Tagespost, 7.8.1914, 1.
614 Die Slawen Österreichs in der großen Zeit, in: Tagespost, 15.8.1914, 1.
615 Die falsche Rechnung auf Oesterreichs innere Schwäche, in: Tagespost, 13.8.1914, 1.
616 Kaisers Geburtstag, in: Tagespost, 18.8.1914, 1.
617 Ein einig Volk von Brüdern, in: Grazer Volksblatt, 15.8.1914, 1.
618 Der Burgfriede der deutschen Parteien und die großen Zukunftsfragen des Reiches und der
Deutschen Österreichs, in: Deutsche Zeitung, 6.12.1914, 1.
619 Ebd.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453