Page - 251 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 251 -
Text of the Page - 251 -
Grazer Frauenhilfskomitee | 251
Gemeinwohls unterordnen würden. Zeigen möchte ich dies vorläufig an einem
Leitartikel aus den Oktobertagen:
„Zu Beginn des Krieges proklamierte der Deutsche Kaiser, der so oft vorher gegen ein-
zelne Parteien demonstrativ Stellung genommen hatte, eine Art Gottesfrieden: ‚Ich
kenn[e] keine Partei.‘ Naive Gemüter glauben seither wirklich, daß die politischen Par-
teien aufgehört haben. Aber die harten Tatsachen kehren immer wieder, daß die wirt-
schaftlichen Interessen einer Klasse oder Schichte [sic] unter allen Umständen über
fromme Wünsche und selbst über Befehle einzelner Mächtiger hinwegschreiten. Beweis
dafür das Verhalten der Agrarier in Deutschland, in Österreich und in Ungarn. [...] Wo
ist da der der Patriotismus der Großgrundbesitzer, der großen und mittleren Bauern,
der Getreide- und Mehlspekulanten? Es fällt ihnen nicht ein, den Worten des Deutschen
Kaisers oder den Wünschen der österreichischen Preßzensoren, die den Parteienkampf
während des Krieges ausgemerzt wissen wollen, zu folgen und ihre persönlichen und
Standesinteressen dem Gesamtwohl zuliebe auch nur im geringsten aufzuopfern. Die
Bevölkerung hungert – aber keine Organisation der Agrarier, keine Landwirtschafts-
gesellschaft und keine Zentralstelle, kein klerikaler, kein nationaler Agrarier erläßt an
seine Partei- und Standesgenossen den Aufruf: Ich kenne keine Partei, ich kenne kein
Sonderinteresse, keinen Klassenkampf – verkauft das Getreide und das Mehl, das ihr
aufgespeichert habt, an die Bevölkerung, die ohnehin für das Vaterland so große Opfer
bringt!“620
Derartige Vorwürfe finden sich mehrfach in den Grazer Zeitungen und Zeitschrif-
ten: „Wo bleibt der Patriotismus des [deutschen] Rüstungskapitals?“621 Rhetorische
Fragen wie diese hängen mit dem (ambivalenten und zerklüfteten) Burgfrieden
zusammen. Dem war so, weil es viele alltagsbezogene (Ordnungs-) Vorstellungen
darüber gab, wie der Krieg und das Zusammenhalten in der „Heimat“ zu funk-
tionieren habe. Die unterschiedlichen Facetten dieser Kosten-/Nutzenfrage bzw.
dieser Patriotismusfrage schlagen sich vielfach in den Quellen nieder. Und auf
diese Patriotismusfrage gab es mehrere (wenngleich nicht immer konkurrierende)
Antworten. Dieser Pluralismus verwehrte aber eine einheitliche „Burgfriedens-
definition“ von Anfang an.
620 Ich kenne keine Partei ..., in: Arbeiterwille, 7.10.1914, 1.
621 Wo bleibt der Patriotismus des Rüstungskapitals?, in: Arbeiterwille, 9.8.1914, 3.
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453