Page - 312 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen312
zu allen Zeiten gewisse semitisierte Rassenelemente waren.“ Dieser Argumenta-
tionslinie folgend, konnte es daher nur heißen: „Einen solchen Antisemitismus
unterdrücken zu wollen, hieße alles ideale Streben in der Menschheit ertöten; und
ein solches Vorgehen wäre um so verhängnisvoller, als die Anhänger dieses Anti-
semitismus zugleich die ehrlichsten Verfechter des nationalen Gedankens gegen-
über dem charakterlosen Kosmopolitismus und die Hochhalter einer sittlichen
Lebensauffassung sind.“ Dieser Artikel, der unter anderem auf Theodor Fritsch,
dem Verfasser des „Antisemiten-Katechismus“ (1887), rekurrierte und aus einem
seiner Artikel eins-zu-eins zitierte, endete mit folgenden zwei Schlusssätzen: „Wir
aber haben auch während des Burgfriedens die Pflicht, Hüter und Verbreiter des
völkischen Hochgedankens zu bleiben. Wir erweisen damit dem Volke und dem
Vaterlande einen großen Dienst.“ Ähnlich argumentierte auch, wie erwähnt, die
deutschnationale Pantz-Partei. Sie verstand unter dem „Burgfrieden“ lediglich den
Zusammenhalt aller „deutschen“ Parteien. Die „slawischen“ Parteien blieben somit
außen vor.332 So zeigt sich auch an diesen Beispielen, dass etwaige Burgfriedens-
komponenten, wie „Nation“, „Konfession“ und/oder „Rasse“, je nach politischer
oder ganzheitlicher Lebensauffassung eine einheitliche Burgfriedensdefintion ver-
unmöglichten. Und diese gesellschaftlichen Konflikte (innerhalb der Monarchie)
lassen sich mehrfach schwarz auf weiß in den (präventiv zensierten) Zeitungen
und Zeitschriften finden.
In den Zeitungen schlug sich nicht nur der anhaltende Nationalitätenkonflikt
(der sich rückblickend nur sporadisch von der Konfessionsfrage trennen lässt) nie-
der, sondern man erfährt aus ihnen auch von anderen wesentlichen Grundzügen
des Kriegsalltags. Bezüglich des Kirchenalltags wurden die sogenannten Kriegs-
betstunden und die Verschränkung der Habsburger mit der römisch-katholischen
Kirche bereits angesprochen. Daneben gab es selbstverständlich noch weitere
und ebenfalls kaum zu übersehbare Alltagsmomente. Rückblickend zeigen sie aus
meiner Sicht alle, wie sehr die in jeder Alltagsnische schlagartig spürbaren (aber
nicht zuvor geahnten) Kriegsfolgen zu einer normativen, finanziellen und nicht
zuletzt lebensbedrohlichen Herausforderung für die Bevölkerung wurden. Fra-
gen, wie „Was kann ich mir leisten?“ oder „Sollen wir heiraten?“, sind hier zu nen-
nen. Schlussendlich fanden seit Ende Juli 1914 in den Grazer Kirchen zahlreiche
Kriegstrauungen statt.333 Diese wurden unter anderem für hochrangige Militärs
332 Siehe das Kapitel: Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache.
333 Unter einer „Kriegstrauung“ versteht man die Heirat zwischen einem Soldaten und einer Zivi-
listin. Vgl. den Lexikonartikel „Kriegstrauung“ von Susanne Rouette in: Hirschfeld/Krumeich/
Renz (22014), 662–663. Speziell zu Freiburg im Breisgau: Chickering (2009), 335–337. Für Wien:
Breiter (1991), 163–168.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453