Page - 338 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen338
Hauptbahnhof und dem Garnisonsgericht/Garnisonsarrest größere Ausschreitun-
gen zugetragen haben.467 Unabhängig davon, ob eine oder gleich mehrere verhaf-
tete Personen vom Militär zum jeweiligen Arrestgebäude gebracht wurden, fand
sich stets eine Menge von vorwiegend jungen Männern und Frauen, die die Über-
stellung durch Verbalattacken, Schläge und Stockhiebe gegen die verhaftete Person
störten. Einigen Artikeln zufolge beteiligten sich auch „viele“468 Soldaten bzw. Re-
servisten an den Gewaltaktionen. Die größeren „Lynchaktionen“ blieben – wie die
täglichen Schlägereien auf den Straßen oder sonst wo – nicht auf die erste Kriegs-
woche beschränkt, sondern lassen sich auch für die Zeit danach belegen. Auf eine
„Lynchaktion“ im September wurde bereits eingegangen. Jetzt geht es mir um drei
größere Ausschreitungen aus den Augusttagen. Die drei Gewaltsituationen haben
Mehreres gemeinsam. Erstens trugen sie sich auf der Wegstrecke zwischen dem
Hauptbahnhof und dem Garnisonsgericht/Garnisonsarrest zu. Zweitens wurden
die verhafteten Personen während der Überstellung von einer Menschenmenge
bespuckt, verunglimpft, getreten und geschlagen. Und drittens hatten die Soldaten
und/oder die Sicherheitswache alle Mühe, die Menschenmenge zurückzuhalten.
An diesen „Lynchaktionen“ zeigt sich daher deutlich, dass der (uniformierte)
Mann und der „Glanz der Montur“ an der „Heimatfront“ nicht durchgehend von
Teilen der Zivilbevölkerung geduldet und geschätzt wurden. Die Behördenbefehle
zum Abstandwahren stießen nämlich bei der Zivilbevölkerung auf taube Ohren,
sodass sich an diesen Vorfällen eine Grenze der zivilen Militarisierung zeigt. Die
Ausschreitungen waren zwar gewaltsam. Aber von geordneter Autoritätshörigkeit
kann nicht die Rede sein. Vielmehr verweigerten die Männer und Frauen den Ge-
horsam gegenüber den Sicherheitsleuten und Soldaten. Schließlich war der Feind,
von dem in den Zeitungen so viel die Rede war, nun endlich einmal (unangekün-
digt) greifbar. Die erste „Lynchaktion“, auf die ich nun verweisen möchte, fand am
Abend des 3. August statt. Bei den Gewaltopfern handelte es sich um drei verhaf-
tete „Serbenfreunde“, die vom Bahnhof via Fuhrwerk durch die Innenstadt hin
zum Garnisonsgericht transportiert wurden. Das Fuhrwerk wurde deswegen her-
angezogen, da „man befürchtete, daß die drei Menschen bei einem Fußtransporte
gelyncht werden.“469 Diese Vorkehrung brachte letztendlich nichts, zumal „Hun-
derte von Menschen [...] sich wildschreiend“ auf die Verhafteten stürzten. Unge-
achtet „der Abmahnung der Soldaten schlugen die Leute mit Stöcken auf die be-
467 Gemeint ist hier die Strecke: Hauptbahnhof – Annenstraße – Hauptplatz – Sporgasse – Garni-
sonsgericht.
468 Verhaftung von Serbenfreunden, in: Grazer Tagblatt, 2.8.1914, 26.
469 Das Zitat und die folgenden Sätze stützen sich auf: Eine aufsehenerregende Eskorte, in: Grazer
Tagblatt, 4.8.1914, 16.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453