Page - 358 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen358
inklusive der sexuell übertragbaren Krankheiten beunruhigte die Zeitungen mas-
siv.561 Ferner gab es damals noch keine Latexkondome. Diese kamen erst nach dem
Ersten Weltkrieg auf den Markt. Die publizistische Diffamierung von Sexarbeite-
rinnen/Prostituierten war vom damaligen Standpunkt ausgesehen somit „nahe-
liegend“. Ihr „Treiben“ war gemäß den damaligen Vorstellungen aus sexualmora-
lischen und gesundheitstechnischen Gründen nicht „einheitsfähig“. Anhangweise
lässt sich anführen, dass während des Kriegs in Graz, wie in anderen Städten auch,
die Zahl der „geheimen“/„versteckten“ Prostituierten stieg.562 Der „geheimen“ Pro-
stitution wurden in erster Linie Dienstmädchen, Arbeiterinnen, Kellnerinnen und
Arbeitslose verdächtigt.563 Die Zahl der (staatlich) kontrollierten Prostituierten
verringerte sich dagegen in den Städten, zumal jene Prostituierten in die Etappe
verlagert wurden.564 Die Kritik an den „Freudenmädchen“ wurde durch den Krieg
nicht gestoppt. In Wahrheit wurde sie seit August mit Nachdruck betrieben. „Ehr-
bare Frauen“ wurden in der französischen Stadt Albert zu Prostituierten, hieß es
beispielsweise in einer kommentarlos wiedergegebenen Telegrafennachricht aus
Deutschland.565 Diese Nachricht diffamierte und skandalisierte Frankreich. Ähn-
lich gelagerte Artikel finden sich über Grazer Prostituierte566 und die mit ihnen
in Verbindungen gebrachten Gruppen (z. B. das „Dirnenwesen“567). Prostituierte
wurden zwar gerne als Polizeiinformantinnen oder Zeuginnen vor Gericht her-
angezogen, aber man duldete es nicht, dass sie Soldaten „krank“ machen oder be-
stehlen würden. Allem Anschein nach haben die oft an Soldaten gerichteten Pres-
sewarnungen568 aber ebenso wenig gefruchtet wie die Zeitungsappelle, dass man
keine Pariser Mode mehr tragen dürfe.
Neben den Prostituierten gerieten nach wie vor die „hysterischen Weiber“ ins
Visier der Presse, zumal sie angeblich die für einen erfolgreichen Kriegsausgang
mehr denn je aufrechtzuerhaltende „Ordnung“ unterliefen. Zur „Ordnung“ ge-
hörte nicht nur, dass Frauen „friedlich“ und „liebevoll“ sein mussten („Da werden
Weiber zu Hyänen ...“569), sondern die „Ordnung“ verlangte auch das Beibehalten
der traditionellen Geschlechterrollenverteilung. Letztere geriet in der zeitgenös-
561 Die Diskussionen darüber kamen nie zu Ende.
562 Vgl. Rath (1996), 117 f. Zum Hintergrund: Nautz (2008).
563 Rath (1996), 120.
564 Daniel (1989), 140.
565 Schreckensbilder aus den umstrittenen Gebieten in Frankreich, in: Grazer Tagblatt, 11.11.1914
(2. Morgenausgabe), 15.
566 Die geheime Prostitution in Graz, in: Grazer Mittags-Zeitung, 24.2.1917, 2.
567 Das Dirnenwesen im Kriege, in: Arbeiterwille, 21.11.1914, 5.
568 Zur Warnung für Reservisten, in: Grazer Volksblatt, 8.8.1914, 6.
569 Da werden Weiber zu Hyänen ..., in: Grazer Tagblatt, 13.10.1914 (2. Morgenausgabe), 6.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453