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Modeboykott | 359
sischen Wahrnehmung vieler Männer und Frauen zunehmend ins Wanken. Man
bekam Angst, dass Frauen im Krieg ihre zugewiesene Rolle als Mutter nicht hinrei-
chend wahrnehmen würden. Ausschlaggebend hierfür waren die Abwesenheit vie-
ler Männer und das damit verbundene „Eindringen“ von Frauen in die „männli-
che“ Erwerbsarbeit.570 Rückblickend lässt sich sagen, dass sowohl die systematische
Mobilisierung von Arbeiterinnen als auch die (unerwartete) Selbstmobilisierung
von Frauen im Ersten Weltkrieg geringer ausfiel als im Zweiten Weltkrieg.571 Im
Ersten Weltkrieg kam es je nach Berufssparte entweder zu einer Steigerung oder
Reduktion „weiblicher“ Erwerbsarbeit. Dabei zeigte sich, dass in „der langfristi-
gen, die Vor- und Nachkriegszeit umfassenden Tendenz und der Zusammenschau
aller Branchen [...] es zwischen 1914 und 1918 jedoch weniger eine sensationelle
Zunahme sondern vielmehr eine auffallende Verschiebung der Frauenarbeit hin
zu kriegswichtigen Bereichen gab, insbesondere zur stark expandierten Rüstungs-
industrie, wo neben Jugendlichen auch besonders viele Frauen tätig waren.“572
Außerdem erlebten und bewältigten Frauen die neue Erwerbsarbeit, wo fachli-
che Kompetenzen erst erlernt werden mussten, unterschiedlich. Während ei-
nige ihre Tätigkeit als Zwang erlebten, fühlten sich andere wiederum durch sie
befreit.573 Zieht man alles in Betracht, blieb die Emanzipation der Frau im Krieg
nur von vordergründiger und vorübergehender Art, zumal die Geschlechterrol-
len letztendlich eher verfestigt als verflüssigt wurden.574 Der Krieg förderte un-
strittig „eine Wiederkehr patriarchaler Modelle und eine Restauration männlicher
Rollenverständnisse.“575 Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass zu Kriegs-
beginn sämtliche Grazer Zeitungen und Zeitschriften die bisherige Geschlechter-
rollenverteilung und somit eine wichtige Säule der gesellschaftlichen „Ordnung“
durch den Krieg bedroht sahen. Als äußerst verwerflich erachteten die Zeitungen
daher jene Frauen, die ihre (zugewiesene) Rolle als Mutter vernachlässigten, pro-
miskuitiv waren oder fremdgingen. Arbeitet man die damaligen Zeitungen durch,
erkennt man aus meiner Sicht, dass die Redaktionen nie direkt bzw. explizit zuga-
ben, dass sie Angst vor der in ihren Augen ins Wanken geratenen Geschlechterrol-
lenverteilung hatten. Das mag unter anderem daher rühren, dass die Artikulation
570 Allgemeines zur Lohn- und Erwerbsarbeit von Frauen in Österreich-Ungarn während des Ersten
Weltkriegs in: Eigner (2010), 444–455; Heindl (2010), 1192–1195; Augeneder (1987). Für das
bäuerliche Milieu in Tirol: Barth-Scalmani/Margesin (2014).
571 Moll (2006a), 188; Daniel (2002), 399.
572 Hämmerle (2010), 257.
573 Schmidlechner (2008), 90, 94.
574 Thébaud (1995), 35, 57, des Weiteren: Grayzel (2014); Lickhardt (2014), 424–433.
575 Leonhard (2014), 775.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453