Page - 394 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 394 -
Text of the Page - 394 -
| Alltag und
Einheitsprüfungen394
res Vaterlandes gehabt hätten. Ihnen war es nur darum zu tun, ‚etwas‘ zu sehen: Militär,
deutsche Truppen u.
s.
w., ihnen machte es eine ‚Hetz‘, mit den Tagesblättern und Extra-
ausgaben über die anfangs sich überstürzenden Ereignisse, brüllend durch die Straßen
zu rennen. Die Folge dieses Pfadfindersturmes war – es wäre kleinlich, wollten wir es
bestreiten –, daß unser Bund die straffe Herrschaft über die Jungen verlor, daß Zucht
und Disziplin gelockert wurden, zumal wir auch durch die Einberufungen eine Reihe
von Feldzeugmeistern verloren. Neue Gruppen entstanden, alte teilten sich in mehrere
neue u. s. w. Der Dienst am Bahnhofe, in der Jugendhilfsstelle, bei Behörden und Äm-
tern nahm die Pfadfinder so sehr in Anspruch, daß keine Zeit für Übungen blieb. […]
Und gar bald stellten sich schon grobe Vergehen des einen oder anderen Pfadfinders ein
– man mußte seinen Ausschluß verhängen. Und dies war im Zeitraume von 18 Tagen,
vom 2. bis 19. August 1914, der Fall.“771
In den ersten Kriegsmonaten äußerte man derartige Bedenken und Sorgen nicht.
Vielmehr sahen die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften im Andrang auf
die Kanzleien eine erfreuliche und daher zu fördernde Gegebenheit, die die Mi-
litarisierung der Kinder und Jugendlichen vorantrieb. Zu Kriegsbeginn galt das
Auftreten der „wackeren Pfadfinder in ihrer kleidsamen Tracht“772 sowie jenes
des Wandervogels für die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften als ein au-
genfälliges Zeichen gegen die seit vielen Jahren artikulierte „Verweichlichung“
oder „Verrohung“/„Verwahrlosung“ der Jugend. Dass man auf der einen Seite die
„Verweichlichung“ bzw. die „Feminisierung“ der Buben anprangerte und auf der
anderen Seite von der „Verwahrlosung“ oder der „Verrohung“ der Kinder und Ju-
gendlichen sprach, ist zwar auf den ersten Blick widersprüchlich, aber mit Blick
auf das „nervöse Zeitalter“773 nachvollziehbar. Obendrein wurden diese Vorwürfe
bereits damals nicht generalisierend verstanden. Gleichwohl lagen beide Bezich-
tigungen der Annahme zugrunde, dass der staatliche „Volkskörper“ nicht „über-
lebensfähig“ sei, wenn es beispielsweise an „Ordnung“ innerhalb der einzelnen
Alterskohorten mangle. Der Ruf nach „Ordnung“ in sämtlichen Lebensbereichen
war damals omnipräsent. Hinsichtlich der Frage, wie diese „Ordnung“ auszusehen
habe, gab es mehrere und teilweise konkurrierende Ansichten. Im Falle der Kinder
und Jugendlichen drehte sich die Diskussion dennoch vorwiegend darum, dass die
Kinder und Jugendlichen von ihren Eltern gemäß der traditionellen Geschlech-
771 Pfadfinderwesen, Erwägungen und Betrachtungen, in: Alpenländische Pfadfinder-Zeitung
(1916), Nr. 11, 89.
772 Die Feier des 66.
Regierungs-Jubiläums unseres Kaisers, in: Grazer Mittags-Zeitung, 2.12.1914, 3.
773 Siehe das Kapitel: Vier Leitpanoramen.
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453