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Pfadfinder und Wandervogel | 397
weise Karl Schwechler (Chefredakteur des katholischen Volksblatts) und andere
Exponenten des Katholischen Pressevereins782 aktiv. Bei den deutschnationalen
Pfadfindern und den sozialdemokratischen Kinderfreunden war dies nicht anders,
weswegen alle diese Kinder- und Jugendgruppen als politische „Vorfeldorganisati-
onen“ erachtet wurden.
Dass es bei der öffentlichen Festschreibung eines (suggestiven) Kinder- und Ju-
gendkollektivs, das als solches keine „Individualität“ mehr kennen sollte (daher
das „Ideal der Jungend“), nicht blieb, zeigte sich an den ersten konkreten Forde-
rungen, die man an die einzelnen Kinder- und Jugendgruppen stellte. So forderte
zum Beispiel die steirische Landwirtschaftsgesellschaft bereits Ende Juli, dass ein
Teil der Pfadfinder zur Erntearbeit in der näheren Umgebung herangezogen wer-
den sollte.783 Die Pfadfinder (und der Wandervogel) folgten dieser Aufforderung
und wandten sich wiederum in mehreren offenen Briefen an die Bauern (und Bäu-
erinnen) in der Umgebung von Graz.784 Für den Fall, dass ein Landwirt Erntehelfer
brauche und diese mit Kost und Quartier versorgen könne, wurden ihm sofern
möglich Pfadfinder und Wandervögel (kostenlos) zur Verfügung gestellt. Genauer
gesagt sollten sich die Bauern bei ihren Bürgermeistern melden, und diese sollten
wiederum das Gesuch an die Jugendhilfsstelle785 weiterreichen. Dabei hieß es in
einem an Mittelschüler gerichteten Appell, dass die für den Ernteeinsatz vorge-
sehenen Kindergruppen786 am Felde „nationale Arbeit“787 mit den Händen und
nicht bloß mit den Worten verrichten können: „Mittelschüler! Kommt aufs Land
und helft den bedrängten Bauernfamilien.“788 Die Pfadfinder und der Wander-
vogel halfen nicht nur beim Einbringen der Ernte, sondern unternahmen auch
andere unentgeltliche Dienste.789 In der Stadt Graz erfolgten die Hilfs- und Unter-
782 Zum Beispiel Karl des Enffans d’Avernas, vgl. Aufruf für das Pfadfinderkorps St.
Georg, in: Grazer
Volksblatt, 3.9.1914, 5.
783 Hilfsdienste der Pfadfinder, in: Tagespost, 29.7.1914 (Abendausgabe), [ohne Seitenangabe].
784 Zu dieser Zeit waren bereits viele Bauern eingerückt, sodass die Bäuerinnen den Hof allein wei-
terführen mussten. Zu den Appellen vgl. Heranziehung der Jugend zu landwirtschaftlichen Ar-
beiten, in: Grazer Tagblatt, 1.8.1914, 3; Die Wandervögel der Ortsgruppen Graz und Marburg,
in: Grazer Tagblatt, 11.8.1914, 4; An die geehrte Bevölkerung der Landeshauptstadt Graz und des
Herzogtumes Steiermark!, in: Grazer Tagblatt, 9.8.1914, 2.
785 Die in der Grazer Burg und im Rathaus untergebrachte Jugendhilfsstelle bzw. Jugendfürsorge-
stelle arbeitete intensiv mit allen Kinder- und Jugendgruppen zusammen.
786 In der Planung sah man für einen Bauernhof eine Gruppe von drei bis acht Kindern vor.
787 Die Wandervögel der Ortsgruppen Graz und Marburg, in: Grazer Tagblatt, 11.8.1914, 4.
788 Ebd.
789 Zu ihren Hilfs- und Unterstützungsleistungen siehe z. B. folgende Artikel: Die Mobilisierung
und der Steirische Pfadfinderbund, in: Grazer Tagblatt, 29.7.1914, 3; Bahnhofbilder, in: Gra-
zer Volksblatt, 29.7.1914, 6; Das Pfadfinderkorps „St. Georg“, in: Grazer Volksblatt, 31.7.1914
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453